16.01.2023 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans-Böckler-Stiftung.
Die Bundesregierung hat den akuten Druck auf Einkommen und Wachstum infolge explodierender Preise reduziert, es bleibt aber deutlicher Verbesserungsbedarf bei der Verteilungsgerechtigkeit der Entlastungpakete; erste Fortschritte bei der Stärkung von langfristigen Qualifizierungen sind absehbar, auch durch das Bürgergeld; eine überzeugende Antwort auf die offensive Industriepolitik der USA, eine Stärkung des Tarifsystems und ein beschleunigter Ausbau erneuerbarer Energien sind wichtige Aufgaben für die nahe Zukunft – so lauten Eckpunkte einer neuen Studie zur wirtschaftspolitischen Situation in Deutschland, die das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung zum Jahresbeginn 2023 vorlegt. Neben der Bundesregierung steht in diesem Jahr die Europäische Zentralbank (EZB) im Zentrum der Analyse von Herausforderungen und Risiken: Deren schnelle Zinserhöhungen kritisieren die Ökonominnen und Ökonomen als „überzogen“. Eine Fortsetzung dieses forcierten Kurses berge große Risiken für die weitere wirtschaftliche Entwicklung, ohne die Ursache des starken Inflationsschubs entscheidend bekämpfen zu können, warnt das IMK.
„Die wirtschaftlichen Schocks, die der russische Überfall auf die Ukraine ausgelöst hat, sind auch in Deutschland hart und schmerzhaft, und sie sind längst nicht vorbei“, sagt Prof. Dr. Sebastian Dullien, der wissenschaftliche Direktor des IMK. „Doch aus dem Jahr 2022 konnten wir auch eine positive Botschaft mitnehmen: Das Zusammenspiel von staatlichen, tariflichen und betrieblichen Maßnahmen hat einen härteren Wirtschaftseinbruch abgewendet. Das ist ein weiterer Erfolg des sozialpartnerschaftlichen Modells in Deutschland. Darauf können und müssen wir 2023 aufbauen.“ Das Düsseldorfer Institut rechnet in seiner neuen Konjunkturprognose mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 0,3 Prozent in diesem Jahr. Im Sommer 2022 waren die Forschenden noch von einer Schrumpfung um ein Prozent ausgegangen.
Mit den Energiepreisbremsen und der Verlängerung der Regeln zu erleichterter Kurzarbeit habe die Bundesregierung wichtige Pflöcke eingeschlagen. Als weiteren, diesmal längerfristigen, Baustein nennt das IMK eine Stärkung des Tarifsystems durch gesetzliche Erleichterungen, Tarifverträge allgemeinverbindlich erklären zu können. Damit, so die Forschenden, „würde die Bundesregierung in diesen schwierigen Zeiten ein wichtiges Signal der Wertschätzung der gesamtwirtschaftlich bedeutsamen Rolle, die das Tarifvertragssystem bei der Bewältigung der letzten beiden Wirtschaftskrisen geleistet hat und auch jetzt wieder leistet, aussenden“. Die Ökonominnen und Ökonomen sind optimistisch, dass die Lohnpolitik in diesem Jahr den „extrem schwierigen Spagat“ weiter bewältigen kann, in Zeiten hoher importierter Inflation Einkommen so weit wie möglich zu stabilisieren, ohne die Teuerung selber anzutreiben.
Beim – angesichts der großen Herausforderungen relativ positiven – Jahresausblick sieht das IMK allerdings eine entscheidende Unbekannte: Die Zinspolitik der EZB. „Eine Geldpolitik, die die Zügel zu straff anzieht, könnte die Erfolge des bisherigen Krisenmanagements in Frage stellen, ohne ihr Ziel zu erreichen“, warnt Dullien. Denn gegen den Hauptgrund der hohen Inflation, stark erhöhte Energiepreise, sei die Notenbank mit Zinserhöhungen machtlos, für eine Verfestigung der Inflation durch Preis-Lohns-Spiralen gebe es im Euroraum keine überzeugenden Indizien. „Natürlich ist die starke Teuerung ein großes Problem und ganz besonders für Menschen mit niedrigeren oder mittleren Einkommen“, sagt Dullien. „Aber niemand hat etwas davon, wenn durch zinspolitischen Aktionismus die Konjunktur noch stärker ausgebremst wird und die Stabilität auf dem Arbeitsmarkt verloren geht.“
Deutlich sinnvoller sei es, bei Bedarf weitere Entlastungen konzentriert an stark bedürftige Haushalte zu leisten, analysiert das IMK. Finanziellen Spielraum für die öffentliche Hand zur Umsetzung solcher Entlastungen könnten kurzfristig ein vorübergehender „Energiesoli“ für Haushalte mit hohem Einkommen oder ein höherer Spitzensteuersatz schaffen.
Eine gerechtere soziale Verteilungswirkung zählt zu den generellen Anforderungen, die das IMK für eine gute Entlastungspolitik formuliert. Die Forschenden sehen es weiterhin als Defizit, dass die Energiepreisbremsen bislang keine Obergrenzen für wohlhabende Haushalte mit hohem Verbrauch umfassen. Die Steuerpflicht für die Entlastungszahlungen treffe allenfalls Spitzeneinkommen und sei daher eher symbolisch, monieren die Ökonominnen und Ökonomen.
Grundsätzlich bewerten sie die zentralen Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung aber wirtschaftspolitisch als sinnvoll. So wirkten beispielsweise die Energiepreisbremsen als zusätzliche „automatische Stabilisatoren“. Dadurch, dass sich die Zahlungen eng an der realen Entwicklung der Energiepreise orientierten, begrenzten sie die Mehrausgaben der Haushalte für Energie recht wirksam und verhinderten dadurch noch stärkere Einbrüche bei den privaten Konsumausgaben. Andererseits sei ausgeschlossen, dass die Zahlungen „zu groß“ ausfielen und dadurch Nachfrage und möglicherweise Inflation zusätzlich ankurbelten – ein Vorteil gegenüber Einmalzahlungen wie in den USA.
Ein Blick über den Atlantik spielt auch eine wichtige Rolle bei den längerfristigen wirtschaftspolitischen Herausforderungen, die das IMK sieht. Mit dem „Inflation Reduction Act“ (IRA) hat die US-Regierung einerseits einen wichtigen Impuls für eine sozial-ökologische Transformation gegeben, die auch in Deutschland und Europa ansteht. Andererseits wird kritisiert, dass Teile der im IRA definierten Subventionsregeln Produkte aus Europa benachteiligen. Aus Sicht des IMK ist diese Kritik durchaus gerechtfertigt, weil die Gefahr besteht, dass in wichtigen Leitmärkten wie der Batteriezellenproduktion Standortentscheidungen für die USA und gegen die EU fallen.
Die Forschenden raten der EU davon ab, sich wegen des IRA in einen Handelskonflikt zu begeben. Stattdessen sollte die EU die industriepolitische Offensive der US-Regierung aber zum Anlass nehmen, „ihrerseits eine aktivere Industriepolitik zu betreiben, um Wirtschaft und Gesellschaft in Europa hin zur Klimaneutralität zu transformieren und damit zukunfts- und krisenfester zu machen.“ Der transatlantische Streit um den IRA zeige, dass bei der Bekämpfung des Klimawandels Industrie- und Handelspolitik in einem starken Spannungsverhältnis stehen. Deshalb müsse auch die europäische Politik klare Prioritäten setzen. Eine entsprechende Initiative von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und seinem französischen Kollegen Bruno Le Maire gehe in die richtige Richtung, so Dullien.
Mit dem IRA nehmen die USA nach IMK-Analyse einen Verstoß gegen Regeln der Welthandelsorganisation WTO bewusst in Kauf. Die EU sollte mit der Einführung des – WTO-rechtlich wesentlich unproblematischeren – CO2-Grenzausgleichsmechanismus (Carbon Border Adjustment Mechanism, CBAM) auch das Risiko eingehen, dass Handelspartner klagen, rät das IMK. Der CBAM, für den im Dezember 2022 das Europäische Parlament und der Rat einen vorläufigen Kompromiss getroffen haben, soll verhindern, dass Unternehmen, die in der EU der CO2-Bepreisung unterliegen, ihre energieintensive Produktion und die damit verbundenen CO2-Emissionen ins Ausland verlagern (carbon leakage). Deshalb müssen Importeure einen Ausgleich zahlen, wenn sie Produkte aus dem Ausland beziehen, die dort ohne eine vergleichbare CO2-Bepreisung wie in der EU hergestellt wurden.
Die sozial-ökologische Transformation verlangt in den nächsten Jahren zudem große Anstrengungen am Arbeitsmarkt und bei der Qualifizierung für neue Tätigkeiten. Dabei muss es verstärkt auch darum gehen, bislang ungenutzte Potenziale insbesondere unter den arbeitslosen Erwerbspersonen zu heben, analysiert das IMK. Es sei deshalb zu begrüßen, dass der bislang im Arbeitslosengeld II geltende sogenannte Vermittlungsvorrang beim neuen Bürgergeld abgeschafft wurde und die Förderung von Qualifizierung und Weiterbildung in den Vordergrund rücken. „Damit werden von politischer Seite die richtigen Weichenstellungen beim Bürgergeld im Hinblick auf die anstehenden Herausforderungen am Arbeitsmarkt gesetzt“, schreiben die Forschenden. Wichtig sei aber auch, dass die Politik einen langen Atem beweist, denn es bedürfe großer Unterstützung und Ausdauer, diese Personengruppe beim Erwerb fehlender Abschlüsse und neuer Qualifikationen zu unterstützen.
Auch bei erweiterten Qualifizierungsmöglichkeiten für aktuell Erwerbstätige sieht das IMK die Ampel-Koalition grundsätzlich auf dem richtigen Weg. Allerdings komme es auch hier auf die konkrete Umsetzung an, und die sei noch offen. Im Koalitionsvertrag seien „durchaus ambitionierte Pläne im Bereich Weiterbildung und Qualifizierung“ formuliert. Dazu zählten der Ausbau des Aufstiegs-Bafög, die Einführung eines Lebenschancen-Bafög in Verbindung mit der Möglichkeit zum Bildungssparen in einem Freiraumkonto, die Schaffung einer Bildungs(teil-)zeit nach österreichischem Vorbild und ein an das Kurzarbeitergeld angelehntes Qualifizierungsgeld. Die Bundesregierung sollte nun rasch ein Konzept erarbeiten, wie diese Instrumente wirkungsvoll miteinander verknüpft werden können, „sodass ein möglichst optimaler Mitteleinsatz und eine hohe Zielgenauigkeit“ erreicht werden können. Ein wichtiger Aspekt dabei sei es, eine starke Weiterbildungsbeteiligung gerade auch von bislang unterrepräsentierten Gruppen wie beispielsweise Geringqualifizierten oder atypisch Beschäftigten zu erreichen. Dabei sollte die Bundesregierung auch die Einführung eines generellen Rechtsanspruchs auf Weiterbildung prüfen, empfiehlt das IMK.
Die Expertinnen und Experten des IMK bedauern, dass die ursprünglichen Pläne der Koalition zum Bürgergeld verwässert werden mussten, um einen Kompromiss mit den unionsgeführten Bundesländern zu erreichen. Das betreffe etwa das nun geringere Schonvermögen, die kürzere Karenzzeit und vor allem den Wegfall der ursprünglich geplanten sechsmonatigen Vertrauenszeit ohne Sanktionen. Damit bleibe das „grundsätzliche Misstrauen in Bezug auf die Leistungsbereitschaft der Arbeitssuchenden“ auch im Bürgergeld erhalten. Unzureichend sind nach Analyse des IMK auch die Verbesserungen bei der Anrechnung von Erwerbseinkommen. Nach wie vor seien die finanziellen Anreize nicht zielführend und die Transferentzugsraten in weiten Einkommensbereichen zu hoch.
Die Forschenden sehen aber Möglichkeiten, hier nachzubessern: „Es bleibt zu hoffen, dass eine von der Bundesregierung für das Jahr 2024 geplante grundlegende Reform des Kombilohnelements des Bürgergelds hier dann grundlegende Verbesserungen bringen wird“, schreiben sie. Dabei müsse auch nochmals grundsätzlich über die angemessene Höhe der Regelsätze nachgedacht werden. „Die Anfang 2023 vorgenommene Erhöhung der Regelsätze war notwendig. Es muss aber letztlich darum gehen, dass eine wirklich soziale Teilhabe durch das Bürgergeld sichergestellt wird, damit es seinen Namen auch wirklich verdient“, so das IMK.
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