25.09.2023 — Tobias Weilandt. Quelle: Verlag Dashöfer GmbH.
Die Einzigartigkeit von VR ergibt sich aus einer Kombination von Immersion, Präsenz und dem Merkmal, das ich ontologische Offenheit nenne.
Immersion leitet sich vom lateinischen Wort immersio ab, das Eintauchen oder Vertiefen bedeutet. So ist es auch nachvollziehbar, dass der Begriff ursprünglich zur Bezeichnung des Eintauchens eines Täuflings bei einer Taufprozedur verwendet wurde. Im technologischen Kontext bezeichnet Immersion das Eintauchen in eine virtuelle Umgebung und wird allzu oft als genuines Charakteristikum von Virtual Reality verwendet. Eine immersive Erlebnisqualität lässt sich aber nicht nur bei VR-Anwendungen beobachten, sondern auch bei ganz analogen Medien. Wer sich schon einmal so sehr in ein Buch vertieft hat, dass Essen, Trinken und Schlafen zur Nebensache wurden, erlebt die Lektüre mit großer Wahrscheinlichkeit als immersive Erfahrung. Die Literatur selbst griff die immersive Erfahrung und ihre Folgen mehrfach selbst auf: Wer kennt nicht “Die unendliche Geschichte” von Michael Ende, in der der lesende Protagonist Bastian, sich so in das gleichnamige Buch vertieft, dass er selbst zu einem wesentlichen Teil der Erzählung wird?
Und genau dieses Beispiel gibt Aufschluss darüber, was Immersion tatsächlich ist und wie sie sich von anderen Rezeptionsformen unterscheidet. Sie nimmt uns vollkommen gefangen und lässt uns die Umgebung außerhalb des Immersionsmediums vergessen. Immersion kann durch eine Vielzahl von Aktivitäten erfahren werden. Wie wir gesehen haben, ist sie keineswegs nur an technologische oder computergenerierte Tools wie VR gebunden. Wohl aber haben VR-Anwendungen das Potenzial, ein sehr viel höheres Maß an Immersion bei Menschen zu generieren, als es Filme, Literatur und andere Medien vermögen. Und weil Immersion uns für ganze Zeitspannen regelrecht von der Außenwelt absorbiert, ist sie lernpsychologisch so interessant. Immersive Erfahrung und das Eintauchen in einen Inhalt bedeuten gleichermaßen auch ein hohes Maß an Aufmerksamkeit – insofern Aufmerksamkeit als Bündelung von Konzentration verstanden wird.
Was ist unter dem Phänomen “Präsenz” im Kontext von VR zu verstehen? Vor allem das Gefühl, sich in einer zwar medienvermittelten, aber für den User real scheinenden Welt zu befinden, wird als Präsenz bezeichnet. Der Begriff selbst wird in den Medien- und Kommunikationswissenschaften unterschiedlich definiert und rückt je Definition einen anderen Aspekt in den Fokus. Zur Vereinfachung lassen sich all diese Begriffe aber grob unter soziale und physische Präsenz versammeln. Die soziale Präsenz umfasst dabei den Eindruck des Users, die virtuellen Akteure der mediierten Welt als echte oder authentische Agenten wahrzunehmen und tatsächlich mit diesen interagieren zu können. Um diesen Effekt zu erzielen, nutzen VR-Brillen unter anderem Techniken des Face- und Eye-Trackings, um die Mimiken der VR-User:innen auf die stellvertretenden Avatare in der virtuellen Welt zu übertragen. Physische Präsenz hingegen bedeutet das Erkennen der virtuellen Umgebung als interaktiven Raum und umfasst damit sowohl den Raum als auch die Verortung der User:innen in dieser digitalen Realität.
Die ontologische Offenheit, die die Definition von VR komplettiert und sie damit kategorial von anderen Medien unterscheidbar macht, umfasst die Möglichkeit, VR-Umgebungen zu 100 % nach den eigenen Wünschen zu gestalten. Ontologie bezeichnet die “Lehre vom Sein”. Diese philosophische Disziplin untersucht demnach, was es in der Welt gibt und welche Essenz den Dingen zugrunde liegt. Das Merkmal der ontologischen Offenheit bedeutet also, dass VR-Umgebungen zu 100 % selbst definiert und bestimmt werden können. Entwicklungsteams und Produktmanager:innen sind also gänzlich frei in der Gestaltung virtueller Umwelten, nicht einmal die Naturgesetze müssen berücksichtigt werden, ganz zu schweigen von alltäglichen Interruptionen. Ein störendes Handyklingeln im Präsenzseminar, ein Hustenanfall während einer Inhouse-Veranstaltung oder andere Störquellen gehören damit der Vergangenheit an. Jedes Lernszenario kann genau so erstellt und gestaltet werden, wie es sich das Produktmanagement wünscht. Der ideale Lernraum ist somit in VR keine bloße Vorstellung mehr, sondern wird Realität.
Durch diese ontologische Offenheit können bekannte Probleme, wie sie insbesondere bei Online-Veranstaltungen auftreten, vermieden werden. Eine der schwerwiegendsten Herausforderungen ist dabei das Phänomen der “kognitiven Überlastung”. Die Cognitive Load Theory (CLT), die erstmals in den 1980er Jahren formuliert wurde, beschreibt die Kapazitäten des menschlichen “Arbeitsgedächtnisses” und besagt, dass Lernende nicht mehr als zwei bis vier Elemente gleichzeitig in ihrer Umgebung kognitiv verarbeiten können, ohne überfordert zu sein. Auf dieser Theorie der kognitiven Überlastung baut die kognitiv-affektive Lerntheorie auf, die u. a. die Überforderung durch irrelevante Elemente in Lernszenarien erklärt. Irrelevant sind demnach alle Elemente, die zu Ablenkungen führen, d. h., die Aufmerksamkeit der Lernenden stören und den Lerninhalt aus dem Fokus rücken lassen: Hintergrundgeräusche, viele blinkende Anzeigen als Live-Feedback, aufgeregte Chatverläufe und andere Aktivitäten sind Ursachen, die zu einer kognitiven Mehrbelastung führen und so den Lernprozess erheblich stören oder gar beenden. Nur durch eine bewusste Gestaltung des Lernarrangements, die lernpsychologische Erkenntnisse wie das Phänomen der kognitiven Überlastung berücksichtigt, kann das volle Potenzial von VR als Weiterbildungsmedium ausgeschöpft werden.
Virtual Reality ist ein einzigartiges Medium und unterscheidet sich von allen anderen Bildungsformaten durch ihre einzigartige Kombination aus Immersion, dem Gefühl der Präsenz und ontologischer Offenheit. Diese drei Eigenschaften sind lernpsychologisch so wertvoll, weil sie VR zu einer einzigartigen Lernerfahrung machen können, indem sie Aufmerksamkeit für Lerninhalte erzeugen und fördern, Flow-Erfahrungen begünstigen und die Entwicklung idealer Lernumgebungen ermöglichen. Nicht zuletzt erlaubt diese triadische Kombination aus Immersion, Präsenz und ontologischer Offenheit ein Höchstmaß an Interaktion mit Lernelementen. Dies führt dazu, dass nicht einfach nur aus einer lean-backward-Rezeptionshaltung Inhalte einfach nur aufgenommen werden, sondern sie werden in einer simulierten Praxissituation erlernt bzw. sie werden trainiert. VR ist damit das spannendste und beste Medium, wenn es um erfahrungsbasiertes Lernen, also echtes Training geht.
Bild: Polina Tankilevitch (Pexels, Pexels Lizenz)
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