26.04.2022 — Tobias Weilandt. Quelle: Verlag Dashöfer GmbH.
Nur unterscheiden sich diese Emotionen, die wir dabei empfinden von den Emotionen, die wir in den gleichen Situationen, allerdings in Realität fühlen? Und wie können wir einerseits komplett in virtuelle Realitäten (VR) abtauchen und andererseits wissen, dass unsere Umgebung nicht real ist? Philosophie und Neurowissenschaften kennen die Antwort.
"Denn obwohl wir uns verstandesmäßig im Klaren darüber sein können, dass ein bestimmtes Erlebnis eine Illusion sein muss, können wir uns genau genommen nicht dabei ertappen, einer Illusion zu unterliegen, und können uns auch nicht beim Erleben einer Illusion selbst beobachten."
- Sir Ernst H. Gombrich -
Es gibt Regale voller Bücher, zahllose Lieder und unzählige Filme, die so traurig, tragisch und herzerweichend sind, dass sie erwachsene Menschen zuweilen zum Weinen bringen. Ein absoluter Filmklassiker, der ganzen Generationen die Tränen in die Augen trieb, ist sicherlich der Disney-Klassiker “Bambi”. Die Szene, in der Bambis Mutter stirbt, hat sich ins kollektive westliche Bewusstsein gebrannt und rührt auch heute noch sein Publikum zu Tränen.
Aber, so kann man vermeintlich herzlos fragen: Warum weinen wir eigentlich, wenn Bambis Mutter stirbt? Wir wissen doch, dass weder Bambi noch dessen Erziehungsberechtigte real sind. Warum weinen wir also bei Bambi?
Wir stehen vor der Frage, ob wir auf fiktive Erlebnisse und virtuell gemachte Erfahrungen anders emotional anders reagieren, als auf die gleichen Situationen in der Realität? Auf den ersten Blick scheinen wir in beiden Fällen – fiktiv/virtuell und real – gleich zu reagieren. Haben wir aber deshalb etwa den Unterschied zwischen Einbildung und Wirklichkeit aus den Augen verloren? Wie schlimm wird das erst, wenn das Metaversum immer weiter wächst und tentakelartig nach unserem Alltag greift?
Nehmen wir mal ein Beispiel aus dem Büroalltag. Stell dir vor, eine Kollegin erzählt dir von ihrer Schwester, der am Wochenende ein schreckliches Unglück passiert ist: Ihre beiden Kinder sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Wir sind selbstverständlich erschüttert aufgrund dieser Nachricht und empfinden mindestens Mitleid mit unserer Kollegin und vor allem der Mutter der beiden verstorbenen Kinder. Etwa eine halbe Stunde später erfahren wir, dass die Kollegin gar keine Schwester hat, die Geschichte also nicht stimmt. Was wird nun mit deinem Mitleid und deiner Erschütterung passieren? Klar, sie verpufft und macht den Weg frei für die Verärgerung über die Lüge, Überraschung und Unverständnis darüber, warum jemand solchen Unsinn erzählt. Dieses Szenario zeigt, dass wir offensichtlich etwa Mitleid nur so lange empfinden, wie wir glauben, die Geschichte sei wahr, die Mutter und deren Kinder also tatsächlich existent sind.
Du merkst: Die Untersuchung, warum wir bei Bambi weinen, wird komplexer. Zum einen weinen wir nämlich bei Bambi, obwohl wir wissen, dass Bambi und dessen Mutter nicht real sind. Zum anderen fühlen wir nur so lange Mitleid und Trauer bei der Geschichte, die uns die Kollegin erzählte, solange wir meinen, die Schwester und die verstorbenen Kinder gäbe es tatsächlich. Komisch, oder? Und überleg dir jetzt mal, wie kompliziert dieses Problem erst wird, wenn du eine VR-Brille trägst und durch den Immersionseffekt deine Aufmerksamkeit fast gänzlich absorbiert wird und du glaubst, die virtuelle Umgebung sei real. Besteht dann die Gefahr, dass du nie wieder aus der VR herausfindest? Sicher nicht! Aber warum?
Stell dir vor, du hast eine VR-Brille auf, befindest du dich in der Serengeti und ein hungriger Löwe setzt mit gewaltigen Sprüngen auf dich zu. In einem anderen virtuellen Szenario siehst du einen Mann ohnmächtig mit einer Platzwunde am Kopf auf dem Boden liegen. Im ersten Fall wirst du höchstwahrscheinlich Angst empfinden, im zweiten hingegen Mitleid und vielleicht Verzweiflung, weil du nicht sofort weißt, was du tun sollst. Du reagierst emotional in etwa so, vielleicht auch ganz genau so, wie du in der Realität reagieren würdest, obwohl du weißt, dass beide Situationen nicht real sind. Kommt der Löwe dir zu nahe, wirst du dir aber eher die VR-Brille vom Kopf reißen, als wegzulaufen. Ebenso wirst du wohl verfahren, wenn du kein (virtuelles) Blut sehen kannst. Es gibt offenbar doch einen Unterschied hinsichtlich realer und virtueller Erfahrungen, denn wir reagieren schlussendlich anders auf sie. Würdest du einem echten Löwen begegnen, der dich als Hauptspeise ins Auge gefasst hat, würdest du sicherlich versuchen, wegzurennen. Und sähest du tatsächlich auf der Straße einen blutenden Mann am Boden, würdest du hoffentlich helfen – zumal du nicht nur moralisch, sondern auch juristisch dazu verpflichtet bist.
Und genau hier haben wir einen ersten konkreten Unterschied. Emotionen, die durch virtuelle Erfahrungen ausgelöst werden (Angst, Mitleid, Verzweiflung etc.) sind offenbar nicht handlungsmotivierend in dem Sinne, dass du vor dem Löwen fliehen oder einen Krankenwagen für den verletzten Mann rufen würdest. Beide “Probleme” würdest du eher dadurch lösen, dass du in irgendeiner Weise der Virtual Reality entfliehst. Sind virtuell evozierte Gefühle also vielleicht gar keine richtigen Gefühle, weil sie uns nicht dazu motivieren, genau das zu tun, was wir in “Wirklichkeit” tun würden?
Eine elegante Antwort auf diese Frage gaben zwei schlaue Philosoph*innen namens Kendall Walton und Eva Schaper. Laut ihnen motivieren die virtuelle Umgebung und der darin enthaltene Löwe bzw. der verletzte Mann dich dazu, so zu tun, als ob der Löwe real wäre bzw. der Mann tatsächlich auf der Straße läge. Wir wissen also, dass beide nicht wirklich da sind, sondern tun eben nur so. Täuschen wir uns also selbst?
Nein, denn wir wissen die ganze Zeit, dass wir uns in einer VR-Umgebung befinden. Wir spielen, als ob die Situationen echt wären, ganz ähnlich, wie ein kleines Kind, das mit seinen Kuscheltieren eine brausende Teeparty feiert, tatsächlich aber vor leeren Tassen sitzt. Durch diesen Als-ob-Modus empfinden wir Angst, Mitleid etc., aber eben nur offline, weshalb wir nicht schreiend vor dem Löwen wegrennen oder direkt Erste Hilfe leisten, um den Verletzten zu versorgen. Schade nur, dass dann sämtliche Emotionen, die durch Kunst (Literatur, Filme etc.) evoziert werden, ebenfalls unecht wären. Es wäre interessant, beim nächsten Kinobesuch zu beobachten, wie eine Person, die vielleicht beim tragischen Ende eines Filmes eine Träne verdrückt, auf deinen (entlarvenden) Ratschlag reagiert: “Ach, jetzt tun sie doch nicht so!”
Eine andere Erklärung könnte wie folgt lauten: Du glaubst, die VR-Umgebung ist real – selbstverständlich tust du das nur zeitlich begrenzt, sonst würdest du ja vielleicht nicht mehr den Weg aus der VR zurückfinden. Durch den Kontext (z. B. trägst du eine VR-Brille, spürst also u. a. ihr Gewicht) verhältst du dich anders. Du bist auf der anderen Seite z. B. so in das Löwen-Szenario vertieft, dass du keinen großen Unterschied machst zwischen Realität und Virtualität. Du bist “so halb” überzeugt davon, dass hier gerade Gefahr durch einen Löwen droht. Gleichzeitig weißt du aber auch, all das passiert in einer VR-Brille. Du hast also parallel zwei – wenn auch jeweils schwache – sich gegenseitig widersprechende Überzeugungen. Und vielleicht überwiegt jeweils eine davon in bestimmten Momenten: Wenn die VR-Anwendung sehr gut programmiert ist und der Löwe wirklich echt wirkt und brüllend auf dich zuläuft, ist die Überzeugung, es droht Gefahr, in diesem Moment stärker und relevanter und du vergisst kurz, dass du eine VR-Brille trägst. Doch warum fliehst du dann nicht, sondern setzt die Brille ab, wenn es dir zu heikel wird? Mithin stellt sich auch die Frage, ob es tatsächlich möglich ist, zwei sich gänzlich widersprechende Überzeugungen zu haben. Kann ich tatsächlich gleichzeitig glauben, dass der Mond um die Erde kreist und und es wiederum nicht tut?
Was hältst Du von folgendem Vorschlag? Unsere Emotionen, die durch Fiktionen und Virtualität ausgelöst werden, sind echt! Gefühle, wie Angst, Mitleid usw. folgen bestimmten Reaktionsmustern. So kann jemand Angst empfinden, wenn er auf einer Glasplattform in schwindelerregender Höhe steht, und dennoch wissen, dass diese Plattform absolut sicher ist. Und genauso reagierst du auf den Löwen und den verletzten Menschen: Du reagierst auf beide virtuellen Situationen, auch wenn du weißt, das beide nicht “echt” sind.
Mithin sind die beiden virtuellen Szenarien absolute Ausnahmesituationen: Du stehst wahrscheinlich nicht jeden Tag einem Löwen Aug in Aug gegenüber. Und Du musst hoffentlich auch nicht jeden Tag Erste-Hilfe leisten. Da ist es nur verständlich, dass du ängstlich reagierst, Mitleid usw. empfindest. Ein Rettungssanitäter und eine Löwendompteurin werden sicher ganz anders mit den jeweiligen Situation umgehen und eher Ruhe bewahren, weil sie aus Erfahrung wissen, was zu tun ist.
Neuere neurowissenschaftliche Studien zur Wahrnehmung von Fiktionen und den Umgang mit virtuellen Realitäten stützen diese Erklärung. Du hast einerseits die Wahrnehmung und das Wissen, dass du gerade eine VR Brille trägst, gleichzeitig aber auch die Vorstellung (gerne auch Fantasie), dass ein Löwe Geschmack an dir gefunden hat, als auch, dass hier gerade eine verletzte Person vor dir liegt. Und genau diese Vorstellung aktiviert die gleichen Hirnareale und bewirkt die gleichen Impulse im Gehirn wie dies bei der Wahrnehmung einer realen Situation passieren würde. Zugegeben, virtuell ausgelöste Emotionen können etwas schwächer sein als sie in echten Situationen ausfallen würden. Vielleicht fühlen sie sich auch etwas anders an. Durch die Wahrnehmung, dass du u. a. eine VR Brille trägst, bist du dir der Situation (virtuell und real) bewusst und entscheidest dich höchstwahrscheinlich gegen das Fortlaufen vor dem Löwen. Denn auch, wenn die gleichen neuronalen Prozesse in deinem Gehirn ablaufen, bist du durch deinen Kopf nicht fremdgesteuert. Nicht dein Gehirn denkt für dich, sondern du denkst mit deinem Gehirn. Du kannst also immer noch Entscheidungen treffen, gleichwohl du starke Emotionen empfindest.
Die Antwort auf die Frage, warum wir bei Bambi weinen, lautet also: Wahrnehmungen von Fiktionen sind Wahrnehmungen von realen Dingen sehr sehr ähnlich. Neuronal laufen ähnliche Prozesse ab und es sind die gleichen Hirnareale aktiv, wenn wir von realen Situationen oder virtuellen Szenarien emotional stimuliert werden. Durch immersive Erfahrungen, die bspw. auch bei Filmen auftreten, erleben wir in gewisser Weise selbst die Situation, in der Bambi sich befindet. Es ist eben genau diese Fähigkeit zur Empathie, die uns dies ermöglicht und Mitleid mit Bambi bei uns evoziert - wir sind dadurch in der Lage, den erlittenen Verlust gewissermaßen nachzufühlen. Und nicht zuletzt weinen wir bei Bambi, weil es doch manchmal ganz schön ist, sich von Musik, Filmen, Literatur und Virtual Reality emotional berühren zu lassen - wir lassen uns halt gern auf Fiktionen ein….
Bild: Ricinator (Pixabay, Pixabay License)