19.01.2016 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans-Böckler-Stiftung.
Deutschland und Österreich sind sich sozial, wirtschaftlich und politisch sehr ähnlich. Trotzdem sind die beiden Länder bei den Reformen ihrer Rentensysteme ganz unterschiedliche Wege gegangen. In Österreich konzentriert sich die Altersversorgung nach wie vor weitgehend auf die umlagefinanzierte Gesetzliche Rentenversicherung (GRV), in die auch die Selbständigen einbezogen wurden und deren Bestimmungen schrittweise für Beamte zur Anwendung kommen. In Deutschland wurde und wird über die kommenden Jahre das Niveau dieser „ersten Säule“ dagegen deutlich reduziert, um den Beitragssatz in der GRV zu stabilisieren. Die geringeren Leistungen sollte vor allem die private, aber staatlich subventionierte, Riester-Vorsorge ausgleichen.
Nach rund 15 Jahren lassen sich laut einer neuen Studie der Hans-Böckler-Stiftung deutliche Konsequenzen dieser unterschiedlichen Ansätze beobachten: In Deutschland sind Beschäftigte über die GRV mittlerweile weitaus geringer abgesichert. Das unterstreichen zahlreiche Kennziffern. Beispielsweise erhielten im Jahr 2013 langjährig (mindestens 35 Jahre) und besonders langjährig (mindestens 45 Jahre) versicherte Männer, die neu in Rente gingen – die Einschränkung auf Männer erfolgt, weil hier in der Regel von durchgehender Vollzeitbeschäftigung ausgegangen werden kann – in Deutschland im Durchschnitt 1.050 Euro monatliche Altersrente. In Österreich kam ein vergleichbarer Neurentner dagegen auf 1.560 Euro – bei 14 Auszahlungen pro Jahr. Auch für die heute Jüngeren sind die Rentenperspektiven in Österreich wesentlich besser als in Deutschland.
Eine der Bedingungen für die besseren Leistungen in der Alpenrepublik ist ein spürbar höherer Beitrag zur GRV. Die gesamte Beitragsbelastung für Beschäftigte ist im Vergleich zu Deutschland allerdings nur höher, wenn man die 4 Prozent Beitragssatz zur zusätzlichen Riester-Vorsorge nicht mit einrechnet. Auch wenn die Arbeitgeber in Österreich höhere Beiträge leisten müssen, war die gesamtwirtschaftliche Entwicklung dort seit Beginn der Reformen günstiger als in Deutschland.
Zu diesen Ergebnissen kommt die neue Studie, die Wissenschaftler des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) und des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung gemeinsam mit Forschern der Arbeiterkammer Wien und der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft erstellt haben. Sie wird heute auf einer Pressekonferenz in Berlin vorgestellt.
„Der Vergleich zeigt, dass das österreichische System einen deutlich besseren Schutz im Alter durch höhere Leistungen gewährleistet“, konstatieren die Autoren Dr. Florian Blank, Prof. Dr. Camille Logeay , Mag. Erik Türk, Dr. Josef Wöss und Dr. Rudolf Zwiener. „Dabei sind die ökonomischen Rahmendaten in Österreich denen in Deutschland weiterhin vergleichbar – ein starkes öffentliches Rentensystem belastet also offenbar nicht die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes.“ Die Forscher halten es für möglich, durch Orientierung an Österreich ein stabileres Alterssicherungssystem zu erreichen – ohne dass ein erneuter Systemwechsel nötig sei.
Einen wichtigen Grund für das schwächere Abschneiden des deutschen Alterssicherungssystems sehen die Wissenschaftler darin, dass sich die Erwartungen, die zur Jahrtausendwende mit einem teilweisen Umstieg auf Kapitaldeckung verbunden waren, nicht erfüllt haben. Die deutlichen Reduzierungen in der GRV werden durch die kapitalgedeckte „zweite“ (betriebliche Altersvorsorge) und „dritte“ (Riester-Rente) Säule oft nicht ausgeglichen. „Übrig geblieben ist ein System, das in Zukunft viele noch nicht einmal vor Altersarmut schützen wird“, schreiben die Wissenschaftler. Das habe zwei Ursachen: Erstens erreiche weder die betriebliche noch die Riester-Rente alle Beschäftigten. Umfragen zeigen, dass nur rund 35 Prozent „riestern“. Aussicht auf eine betriebliche Rente haben gut 56 Prozent. Knapp 30 Prozent aller Arbeitnehmer nutzen keine der freiwilligen Vorsorgeformen. Das gilt besonders häufig für Beschäftigte mit niedrigen Einkommen. Sie hätten zwar eine zusätzliche Absicherung besonders nötig, verzichten aber darauf – oft aus finanziellen Gründen.
Zweitens bringen insbesondere viele Riester-Verträge nach Einschätzung der Wissenschaftler nicht die Renditen, die nötig wären, um Lücken in der gesetzlichen Rente auszugleichen. Das zeige sich an den hohen Gebühren und am stetig sinkenden Garantiezins, der von 4 Prozent im Jahr 2000 auf mittlerweile nur noch 1,25 Prozent herabgesetzt wurde.
Neben den aktuellen Unterschieden bei den Auszahlungsbeträgen für (besonders) langjährig Versicherte nennen die Wissenschaftler weitere Kennzahlen, die für die nächsten Jahrzehnte einen deutlichen Rückstand der Alterssicherung in Deutschland gegenüber Österreich illustrieren. So nimmt Deutschland in internationalen Vergleichen der Industrieländer-Organisation OECD beim gesetzlichen Rentenniveau einen Platz am unteren Rand ein, während Österreich relativ weit oben rangiert.
Diese Differenz drückt sich unter anderem im so genannten Rentenniveau aus. Es beziffert, wie hoch die Rente eines „Standardrentners“ im Verhältnis zum mittleren Einkommen ist. Für Österreich weist die neueste OECD-Projektion ein zukünftiges Rentenniveau von 78,1 Prozent (brutto, vor Steuern und Sozialabgaben) und 91,6 Prozent (netto) aus. In Deutschland ist das zukünftige Rentenniveau der GRV hingegen weitaus niedriger: 37,5 Prozent brutto und 50,0 Prozent netto. Den Berechnungen der OECD liegt jeweils ein Rentenalter von 65 Jahren nach 45 Beitragsjahren mit „Durchschnittsverdienst“ zugrunde. Während in Österreich 65 Jahre das reguläre Rentenalter darstellen, basieren die Berechnungen für Deutschland auf der Sonderregelung für besonders langjährig Versicherte, die künftig nach 45 Beitragsjahren eine abschlagsfreie Rente ab 65 Jahren vorsehen. Der große Rückstand der Deutschen lasse sich durch private Zusatzvorsorge selbst unter den aus Sicht der Forscher zu optimistischen Annahmen der OECD nur zur Hälfte ausgleichen.
Auch Geringverdiener sind nach Analyse der Wissenschaftler im österreichischen System merklich besser abgesichert. Neben dem höheren Rentenniveau sichern die von der Rentenversicherung ausbezahlten, steuerfinanzierten „Ausgleichszulagen“ mit rund 12.000 Euro jährlich (für Alleinstehende) Rentnern ein merklich höheres Mindesteinkommen.
Eine leichte Annäherung der Rentenniveaus im hohen Alter sei allenfalls unter günstigen Bedingungen durch die unterschiedlichen Anpassungsmechanismen bei Bestandrenten zu erwarten, so die Forscher: Während die österreichische GRV einen jährlichen Inflationsausgleich vorsieht, koppelt die deutsche GRV die Rentenentwicklung an das Wachstum der Löhne, allerdings gedämpft unter anderem durch den so genannten Nachhaltigkeitsfaktor. In den vergangen zehn Jahren führten die unterschiedlichen Anpassungsmechanismen tatsächlich aber zu einem deutlich größeren Abstand.
Die deutlich höheren GRV-Leistungen in Österreich sind mit einem deutlich höheren Beitragssatz verbunden. Er beträgt seit 1988 unverändert 22,8 Prozent, in Deutschland sind es im Jahr 2015 18,7 Prozent. Rechnet man in Deutschland 4 Prozent Beitragssatz zur Riester-Vorsorge hinzu, dann sind die Beitragssätze in beiden Ländern fast gleich hoch. Dabei tragen die österreichischen Arbeitgeber einen höheren Anteil am Rentenbeitrag als die Beschäftigten (12,55 Prozent vs. 10,25 Prozent), während es in Deutschland umgekehrt ist, wenn man die Beiträge zur Riester-Rente mit einrechnet. Die demografische Situation ist in Österreich aufgrund deutlich höherer Immigration in der Vergangenheit günstiger, was durch ein niedrigeres durchschnittliches Rentenalter allerdings zum Teil relativiert wird.
Als weiteren Faktor bei der Stärkung des gesetzlichen Rentensystems nennt die deutsch-österreichische Forschergruppe die Ausgestaltung der österreichischen GRV als Erwerbstätigenversicherung. Zudem werden seit rund einem Jahrzehnt die vordem deutlich großzügigeren Regelungen zur Beamtenversorgung an das Leistungsniveau der GRV angeglichen.
Die Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Wirtschaft haben die höheren Lohnnebenkosten zur Alterssicherung offenbar nicht gebremst, betonen die Wissenschaftler. Die wichtigsten Rahmendaten zeigen: Auch bei einem höheren Rentenbeitrag und insgesamt stärker steigenden Arbeitskosten seit der Jahrtausendwende hat sich die österreichische Wirtschaft in diesem Zeitraum deutlich kräftiger entwickelt. Während das Bruttoinlandsprodukt in Österreich von 2000 bis 2014 um 23 Prozent zunahm, betrug das Wirtschaftswachstum in Deutschland 17 Prozent. Die Erwerbstätigkeit nahm in Österreich um 15 Prozent zu, in Deutschland um sieben Prozent. Auch die Arbeitsproduktivität pro Stunde wuchs in Österreich (19 Prozent) stärker als beim Nachbarn (17 Prozent), gleichzeitig legten die nominalen Arbeitnehmerentgelte in der Alpenrepublik kräftiger zu.
„Letztlich verfolgte Österreich seit Beginn der europäischen Währungsunion im Jahr 1999 einen balancierteren Wachstumskurs, mit einem stärkeren Wachstum der Binnennachfrage und einem guten, aber geringeren Exportwachstum als Deutschland“, schreiben die Forscher. „Ein stärkeres öffentliches Sicherungssystem ist möglich und setzt die Wirtschaft auch nicht unter übermäßigen Druck.“
Sozialpolitische Strategien seien nicht einfach von einem Land auf das andere übertragbar, betonen die Forscher. Trotzdem halten sie eine intensive Beschäftigung mit dem österreichischen Weg der Alterssicherungsreformen für empfehlenswert. Die Erfahrungen aus dem Nachbarstaat zeigten, dass eine starke öffentliche Alterssicherung bessere Ergebnisse bringt. So habe es sich als sinnvoller erwiesen, öffentliche Mittel in eine Stärkung der GRV unter anderem zur Aufstockung niedriger Renten zu investieren als damit kapitalgedeckte Zusatzvorsorge zu subventionieren, von der Besserverdienende am ehesten profitieren.
Daher ist es aus Sicht der Forscher sinnvoll, in einem ersten Schritt den Riester-Faktor aus der Rentenformel zu entfernen und so das Leistungsniveau der GRV zu stabilisieren. Gleichzeitig solle die öffentliche Förderung der Riester-Rente nur eine untergeordnete Bedeutung haben – sofern sie „aus Vertrauensschutzgründen“ überhaupt weiterhin notwendig sei.
Auch bei der Gestaltung der betrieblichen Altersvorsorge sehen die Wissenschaftler bedenkenswerte Ansätze in Österreich. Dort sind Arbeitgeber an der Finanzierung der – insgesamt wenig verbreiteten Betriebsrenten – verpflichtend mindestens zur Hälfte beteiligt. In Deutschland ist es dagegen möglich, dass der Arbeitgeber bei der „Entgeltumwandlung“ keine Beiträge leistet, so unter dem Strich sogar Lohnnebenkosten einspart und damit durch die Nutzung einer „betrieblichen Altersvorsorge“ sogar Zusatzgewinne erzielen kann. „Eine mindestens paritätische Mitfinanzierung der Arbeitgeber wäre Bedingung für eine tragfähige Entgeltumwandlung als Teil der betrieblichen Altersvorsorge, die dann auch verpflichtend für alle Beschäftigten gemacht werden müsste und die gesetzliche Rente nicht schmälern dürfte“, schreiben die Forscher.
Schließlich halten die Forscher einen Ausbau der GRV zu einer Erwerbstätigenversicherung für empfehlenswert. Österreich zeige, dass auch eine schrittweise Anpassung der Beamtenversorgung an die gesetzliche Rente wirtschaftlich und rechtlich möglich und, bei großzügigen Übergangsregeln, auch im Konsens umzusetzen sei.