01.02.2012 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans Böckler Stiftung.
Minijobberinnen und Minijobber werden vielfach systematisch geringer bezahlt als andere Beschäftigte - obwohl das verboten ist. Fast 90 Prozent der geringfügig Beschäftigten arbeiten zu Niedriglöhnen. Unternehmen nutzen Minijobs, in denen überwiegend Frauen arbeiten, offenbar gezielt, um Personalkosten zu drücken. Besonders eklatant ist der Lohnrückstand unter geringfügig Beschäftigten, die gleichzeitig Arbeitslosengeld II (ALGII) beziehen. Ein starkes Indiz dafür, dass Arbeitgeber die "Aufstockung" durch Sozialleistungen bei der Lohnfestsetzung bereits einkalkulieren. Das sind Ergebnisse aus drei neuen Studien, an denen Forscherinnen und Forscher der Hans-Böckler-Stiftung beteiligt sind, beziehungsweise die von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert werden. Sie zeigen auch, dass Minijobs nur selten eine "Brücke" in stabile Beschäftigung bilden. Und: Das verbreitete Bild der Minijobberin, die "nur hinzuverdient" und über Einkommen und Sozialansprüche ihres Partners indirekt abgesichert ist, trifft längst nicht immer zu. Die Untersuchungen erscheinen im Heft 1/2012 der WSI Mitteilungen und werden heute auf einer Pressekonferenz in Berlin vorgestellt.
Die geringfügige Beschäftigung sei längst aus dem Ruder gelaufen, konstatieren Dr. Dorothea Voss, Dr. Christina Klenner und Dr. Alexander Herzog Stein, Arbeitsmarktexperten der Hans-Böckler-Stiftung und Koordinatoren des Schwerpunkthefts. Ursprünglich gedacht, um Hausfrauen einen unkomplizierten Nebenjob zu ermöglichen, haben sich Minijobs stark ausgebreitet. Und spätestens seit den Arbeitsmarktreformen 2003 geht es nicht mehr nur um Hinzuverdienste. Im Frühjahr 2011, so die aktuellsten Daten, war jedes fünfte Beschäftigungsverhältnis in Deutschland ein Minijob - insgesamt rund 7,3 Millionen. Für rund 4,8 Millionen Menschen, darunter 3,2 Millionen Frauen, stellte der Minijob die einzige Erwerbstätigkeit dar. Minijobbeschäftigte müssen selber keine Steuern und Sozialabgaben abführen, erwerben aber auch keine oder nur sehr geringe eigenständige Ansprüche an die Kranken-, Renten- oder Arbeitslosenversicherung.
"Der steile Aufstieg von Minijobs im deutschen Beschäftigungssystem ist ein besonders gutes Beispiel dafür, wie sich im Einzelnen begründbare Praktiken verselbständigen und immer weiter weg führen von zukunftsfähigen Lösungen für eine moderne Erwerbsgesellschaft", schreiben die Forscher. Und das Dilemma spitze sich zu. Denn die Minijobregelung sende ebenso wie das Ehegattensplitting an Frauen Signale aus, "die diametral dem entgegengesetzt sind, was der Staat von ihnen erwartet." Die steuer- und abgabenrechtliche Privilegierung setze einen ökonomischen Anreiz für Ehepaare, die Erwerbstätigkeit der Ehefrau auf den Minijob zu beschränken. Dagegen zielten das neue Unterhaltsrecht, die Aktivierungspolitik am Arbeitsmarkt oder die reformierte Hinterbliebenenversorgung zunehmend auf eine möglichst umfangreiche Erwerbstätigkeit und eine eigenständige Existenzsicherung von Frauen ab. Diese sei im Rahmen geringfügiger Beschäftigung ausgeschlossen. Zugleich verschärfe die massenhafte Nutzung von Minijobs Probleme auf dem Arbeitsmarkt, weil Löhne und reguläre Beschäftigung unter Druck geraten.
Angesichts der beobachteten Fehlentwicklungen halten Voss, Klenner und Herzog-Stein, die steuer- und abgabenrechtliche Privilegierung von Minijobs für höchst fragwürdig. Um die Diskriminierung von Minijobberinnen und Minijobbern auf dem Arbeitsmarkt zu beenden und die drohenden Lücken in der sozialen Sicherung zu vermeiden, sei eine Abschaffung dieses Sonderstatus´ unvermeidlich. Die Forscher sprechen sich zudem für verbindliche Lohnuntergrenzen aus, um extreme Niedriglöhne zu verhindern.
Minijobs als "Niedriglohnfalle"
Das Teilzeit- und Befristungsgesetz verbietet Lohnabschläge aufgrund kürzerer Arbeitszeiten. Auch Minijobbende haben also Anspruch auf die gleichen Bruttostundenlöhne wie in einer vergleichbaren sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. In der Praxis verdienen sie aber brutto weitaus weniger, belegen Böckler-Forscherin Voss und Dr. Claudia Weinkopf vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen mit Daten aus dem Sozio-oekonomischen Panel (SOEP). 2009 arbeiteten rund 88 Prozent der Menschen, für die der Minijob die Hauptbeschäftigung bildet, für einen Niedriglohn. Das heißt, für brutto weniger als 9,76 Euro in Westdeutschland oder weniger als 7,03 Euro in Ostdeutschland. Geringfügig Beschäftigte waren mehr als viermal so häufig von Niedriglöhnen betroffen wie der Durchschnitt aller Arbeitnehmer. 58 Prozent der 1,2 Millionen Beschäftigten, die in Deutschland weniger als 5 Euro pro Stunde verdienen, arbeiten im Minijob. Nach Auswertungen des Statistischen Bundesamtes und der Bundesagentur für Arbeit (BA) verdienen Minijobber im Durchschnitt weniger als neun Euro brutto pro Stunde - nicht einmal halb soviel wie Arbeitnehmer mit einer regulären Vollzeitstelle.
Mit objektiven Kriterien wie beispielsweise Unterschieden bei der Qualifikation lasse sich der große Lohnrückstand nicht erklären, betonen Voss und Weinkopf. Sie schließen daraus, dass Arbeitgeber den Steuer- und Abgabenvorteil der Minijobs bei der Lohnfestsetzung zu ihren Gunsten nutzen. Wie das möglich ist, zeigen die Forscherinnen mit einer Beispielrechnung: Eine sozialversicherungspflichtig Beschäftigte erhält einen Bruttolohn von 13,50 Euro pro Stunde. Ist sie verheiratet, kinderlos und in der Lohnsteuerklasse V, verdient sie netto rund 7 Euro. Nach dem Gesetz müsste eine Minijobberin bei gleicher Tätigkeit brutto ebenfalls 13,50 Euro bekommen - und erhielte diesen Betrag auch netto. In der Praxis dürften viele Arbeitgeber den Minijob stattdessen nach der Maxime "netto gleich brutto" bezahlen, im Beispielfall also mit 7 Euro brutto. Auch wenn darauf 30 Prozent Pauschalabgaben für den Arbeitgeber fällig werden, wäre es so für ihn dennoch lukrativ, sozialversicherungspflichtige durch geringfügige Beschäftigung zu ersetzen. Die Forscherinnen verweisen auf diverse Fallstudien aus dem Einzelhandel, dem Gast- und dem Reinigungsgewerbe sowie der Gesundheits- und der Sozialbranche, die dokumentieren, dass selbst große Unternehmen mit gesetzeswidrigen Lohnabschlägen für geringfügig Beschäftigte operieren.
Betroffene Minijobbeschäftigte merken zwar beim Nettolohn keinen Unterschied, sie müssen aber auf jede eigenständige soziale Absicherung verzichten. Dies sei gerade für jüngere Frauen angesichts der zunehmend weniger verlässlichen Absicherung über die Ehe riskant. Für die große Mehrheit der geringfügig Beschäftigten werde der Minijob zur "Niedriglohnfalle", warnen die Wissenschaftlerinnen. Und je mehr Unternehmen sie als Schlupfloch zur Reduzierung der Personalkosten nutzten, desto weniger Chancen auf eine vollwertige Beschäftigung blieben Arbeitnehmer/innen. Das gelte insbesondere im Handel, dem Gast- und dem Reinigungsgewerbe, wo Minijobs bereits 40 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse ausmachen.
ALG II: Ausstieg eher ohne Minijob
Besonders niedrig sind die Bruttolöhne von Minijobbern, die gleichzeitig ALG II beziehen - immerhin 12 Prozent aller geringfügig Beschäftigten. Sie verdienten 2009 im Durchschnitt sogar nur 6,08 Euro pro Stunde. Das haben Dr. Irene Dingeldey, Peter Sopp und Dr. Alexandra Wagner auf Basis von Paneldaten der Bundesagentur für Arbeit (BA) errechnet.
Auch dieser zusätzliche Lohnrückstand lässt sich nach Analyse der Wissenschaftler von der Universität Bremen und vom Berliner Institut FIA nicht durch geringere formale Qualifikation erklären. Vielmehr halten sie es für wahrscheinlich, dass die Grundsicherung bei solchen Löhnen oft einfach mit einberechnet werde, so dass "faktisch ein Kombilohn zu Lasten des Fiskus entsteht, die Wirtschaft folglich Lasten auf die Allgemeinheit abwälzt." Dabei helfen Minijobs nur sehr begrenzt dabei, eine reguläre Beschäftigung zu finden: Den Erwerbslosen im BA-Panel gelang der Ausstieg aus dem Leistungsbezug häufiger, wenn sie vorher keiner geringfügigen Beschäftigung nachgegangen waren. "Eine allgemeine Brückenfunktion in den regulären Arbeitsmarkt ist nicht erkennbar", vermerken Dingeldey, Sopp und Wagner.
Minijobs oft Teil eines prekären ErwerbsverlaufsDas bestätigen WSI-Forscherin Christina Klenner und ihre Co-Autorin Tanja Schmidt: Lediglich neun Prozent der geringfügig Beschäftigten wechseln in ein Normalarbeitsverhältnis. Ein dringendes Interesse an einem Job mit längerer Arbeitszeit und höherem Verdienst dürften jedoch weitaus mehr Minijobberinnen und Minijobber haben, zeigt die Untersuchung der beiden Wissenschaftlerinnen, die die Lebensverhältnisse von erwerbstätigen Frauen von 2001 bis 2007 anhand von SOEP-Daten nachgezeichnet und Erwerbsverlaufsmuster identifiziert haben.
Denn nur auf einen Teil der analysierten Frauen - rund 40 Prozent der Frauen mit Kindern - passt das verbreitete Bild von der Mutter mit normal verdienendem Partner, die per Teilzeittätigkeit das Familieneinkommen etwas aufbessert. Knapp zwei Drittel von ihnen haben Minijob-Erfahrung. Daneben identifizieren die Wissenschaftlerinnen eine Gruppe von Frauen, die Minijobs ausgeübt haben, weil es für sie keine anderen Angebote auf dem Arbeitsmarkt gab. Mehr als ein Viertel der untersuchten Gruppe leben diese "diskontinuierlich-prekären" Erwerbsverläufe, bei denen Minijobs eine wichtige Rolle spielen. Das betrifft Mütter etwas häufiger als Frauen ohne Kinder, Ostdeutsche öfter als Westdeutsche, jüngere häufiger als ältere. Viele von ihnen sind niedriger qualifiziert und leben in einem Haushalt mit sehr geringem Gesamteinkommen. Nur ein Teil hat einen versorgenden Partner. Für diese Frauen sei der Minijob doppelt problematisch, warnen Klenner und Schmidt: Nicht nur längerfristig, etwa im Fall einer Trennung oder wegen der mangelnden Absicherung fürs Alter, sondern bereits kurzfristig als Teil eines Erwerbsmusters, aus dem nur wenige hinausfinden.