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Neue Einsatzmöglichkeiten von Virtual Reality in der Pädagogik durch Wissenschaftsvisualisierungen

02.02.2023  — Tobias Weilandt.  Quelle: Verlag Dashöfer GmbH.

Virtual Reality gilt als eine der vielversprechendsten Bildungsmedien, die uns derzeit zur Verfügung stehen. Dank der einzigartigen Möglichkeit, Vorgänge und Gegenstände darzustellen, lässt sich mit VR potenziell alles nach den eigenen Wünschen darstellen.

In Kombination mit klassischen Visualisierungsstrategien, die üblicherweise in den Naturwissenschaften zur Anwendung kommen, um Prozesse und Objekte für das menschliche Auge nachvollziehbar darzustellen, wächst das Potenzial von VR im Bildungssektor noch einmal stark an. Dieses Potenzial kann im breiten Spektrum von Wirtschafts- bis hin zur Museumspädagogik sinn- und wertvoll eingesetzt werden.

Häufig wird behauptet, das Charakteristikum, das Virtual Reality von allen anderen Medien unterscheidet, sei Immersion. Gemeint ist damit, dass eine Person so weit in ein Szenario eintaucht, dass es vollkommen oder doch zumindest in großen Teilen als Realität empfunden wird. Ob bei der Lektüre eines Buches, dem Schauen eines Filmes oder der Anwendung einer VR-Software: Je weniger jemand von der Außenwelt wahrnimmt und sich stattdessen auf den vorliegenden medialen Inhalt fokussiert, desto intensiver ist die immersive Erfahrung, die dank des jeweiligen Mediums gemacht wird.

Wie man sehen kann, und sicher auch aufgrund eigener Erfahrungen im Lese- oder Kinosessel, ist Immersion kein genuines Merkmal von Virtual Reality. Vielmehr ist VR das Medium mit dem höchsten Immersionseffekt. Es unterscheidet sich jedoch nicht kategorial von Büchern und Filmen, sondern nur graduell. Was Virtual Reality tatsächlich von allen anderen Medien unterscheidet, ist was ich „ontische Offenheit“ nenne. Ontologie bezeichnet die „Lehre vom Sein“. Diese philosophische Disziplin untersucht, was es in der Welt gibt und welche Essenz den Dingen zugrunde liegt. Der Begriff der „ontischen Offenheit“ meint demzufolge, dass VR-Umgebungen zu 100 % selbst definiert und bestimmt werden können. Entwicklungsteams sind gänzlich frei in der Gestaltung virtueller Umwelten. Nicht einmal die physikalischen Naturgesetze müssen berücksichtigt werden, ganz zu schweigen von alltäglichen Interruptionen. Ein störendes Handyklingeln in einem Seminar, ein Hustenanfall während einer Inhouse-Veranstaltung und Baulärm in einer Prüfungssituation gehören durch VR der Vergangenheit an. Jedes Lernszenario kann genau so programmiert werden, wie es sich Pädagoginnen und Pädagogen wünschen. Der ideale Lernraum ist demzufolge in VR keine bloße Vorstellung mehr, sondern wird (virtuelle) Realität.

Das Unsichtbare sichtbar machen – VR und Wissenschaftsvisualisierungen

Bereits im Alltag gelten Ausdrücke wie Bildlichkeit oder Anschaulichkeit als Synonyme für Verständlichkeit. Der große Vorteil von Visualisierungen liegt darin, dass sie einen übersichtlichen Einblick in ein Thema ermöglichen. Vor allem in den Naturwissenschaften haben sich bildgebende Verfahren seit vielen Jahrzehnten durchgesetzt und gelten als gängige Erkenntnis- und Vermittlungswerkzeuge. Der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger erkennt in der Anwendung von Visualisierungsmethoden geradezu den Kern der modernen Naturwissenschaften. In der Verwendung unterschiedlichster Visualisierungstechnologien zur Erkenntnisproduktion sieht er eine enge Verbindung von Wissen und Technik, die in dieser Ausprägung nur in den empirischen Wissenschaften zu finden sei. Neben einer epistemischen Valenz von Verbildlichungen spielen Bilder ebenfalls eine große Rolle in der Vermittlungsarbeit. In Kombination mit der „ontischen Offenheit“ von Virtual Reality kann hier das Feld der Pädagogik auf ganz neue technologische Füße gestellt werden. Denn nun können bspw. Prozesse, die für das menschliche Auge nicht wahrnehmbar sind, so dargestellt werden, dass sie nicht nur beobachtet, sondern sogar aktiv gesteuert werden können. Salopp könnte man sagen: Das Unsichtbare wird sichtbar gemacht.

Wissenschaftsvisualisierungen und VR – Konkrete Einsatzmöglichkeiten

Innerhalb der Naturwissenschaften gibt es zahlreiche Visualisierungsstrategien, um Dinge und Prozesse nicht nur sichtbar zu machen, sondern diese Lernenden mittels Bildern anschaulich zu vermitteln. Drei Methoden sollen nun im Fokus stehen: die Konfigurierung, das Enhancement und die Schematisierung.

Konfigurierung

Hinsichtlich des Typs der Konfigurierung, nimmt der Wissenschaftshistoriker Hans-Jörg Rheinberger die weitere Unterteilung zwischen Kompression und Dilatation vor. Beide seien notwendig, wenn es um die experimentelle Sichtbarmachung von Strukturen oder Prozessen gehe. Die Kompression stellt dabei das Gegenteil der Dilatation dar. Kompression kann als Verlangsamung von Vorgängen und als Zusammenziehung von Strukturen verstanden werden. Bei der Dilatation handelt es sich hingegen um eine Strategie zur Beschleunigung von Prozessen und der Ausweitung oder Vergrößerung von Strukturen. Was also zu klein ist, wird durch Dilatation vergrößert; was zu groß ist, muss durch Kompression zusammengepresst werden. Was zu schnell ist, wird durch Kompression verlangsamt; was wiederum zu langsam ist, wird durch Dilatation beschleunigt.

Anwendungsszenario von Kompression: Um sich den detaillierten Aufbau bspw. der Milchstrasse anzuschauen, stehen klassischerweise Sternenkarten, unzählige Videos und Events in Planetarien zur Verfügung. Nachteilig dabei ist zum einen die lean-backward Rezeptionsperspektive der Lernenden, zum anderen, zumindest bei Sternenkarten und Videos, die zweidimensionale Darstellung. Mittels Virtual Reality lässt sich nicht nur eine 360 Grad-Ansicht und damit ein größerer Wow-Effekt erzielen. Die Reise durch die Galaxis kann durch den Lernenden selbst gesteuert werden. Statt sich einfach zurückzulehnen und berieseln zu lassen, muss in VR aktiv gehandelt werden. So wird eine lean-forward Rezeptionssituation erzielt, die nachweislich sehr viel nachhaltigere Lernerfolge nach sich zieht. Und mal ganz ehrlich: Einer Galaxienkollision durch eine Kombination aus einer kompressiven (verkleinernde) und einer dilatativen (beschleunigenden) Visualisierungsmethode beizuwohnen, ist eine Erfahrung, die ein Leben lang bleiben wird!

Anwendungsszenario von Dilatation: Die Dilatation ermöglicht es z. B. auf dem Gebiet der Wirtschaftspädagogik bestimmte Marktmechanismen interaktiv und zeitlich verkürzt darzustellen. Interaktiv dahingehend, dass Ursache-Wirkungs-Prinzipien ausprobiert und dahingehend untersucht werden können, inwiefern schon kleine Änderungen oder (menschliche) Anpassungen einen Wirkungseffekt haben können. Auch dieser Effekt sollte aber, ganz im Sinne der Dilatation, zeitlich verkürzt dargestellt werden. Prozesse und Folgen, die mitunter Stunden, Tage oder gar Wochen dauern können, werden so in VR binnen weniger Sekunden oder Minuten gemäß bestimmten Gesetz- und Regelmäßigkeiten veranschaulicht.

Enhancement

Die zweite Methode, das Enhancement, wird häufig in den Biowissenschaften angewandt. Hier werden oftmals Indikator- oder Kontrastmittel eingesetzt. Vorhandene Formen werden visuell überhöht dargestellt, um sie sichtbar zu machen. Die eingesetzten Kontrastmittel werden dabei häufig zu einem Bestandteil des Dargestellten. Die eigentliche Struktur wird also stofflich manipuliert, um bestimmte Aspekte sichtbar zu machen.

Anwendungsszenario von Enhancement: Ein konkretes Anwendungsbeispiel in VR könnte die gefahrlose und kostengünstigere Erstellung eines Autoradiogramms einer Zelle sein. Statt mit echten radioaktiven Stoffen kann der Zellkern virtuell markiert werden. In Kombination mit dem Verfahren der Kompression, kann z. B. der Stoffwechsel eines so markierten Einzellers studiert werden. Statt über Stunden die Wirkung radioaktiver Nukleotide zu beobachten, ließe sich in VR ein prototypischer Zeitraffer darstellen und so die Folgen der Markierung binnen kürzester Zeit veranschaulichen.

Schematisierung

Die dritte Methode ist die Schematisierung, mit der meist Schemata, Modelle und Diagramme erstellt werden. Mittels dieser werden komplexe Prozesse und Strukturen in einer ganz eigenen Bildsprache dargestellt. In Modellen werden Sachverhalte veranschaulicht, die wegen ihres Modell-Seins bildlich keine Verbindung zum visualisierten Inhalt besitzen. Schematisierungen sind stets Übersetzungen von Inhalten eines Mediums in ein anderes. Wir können hier also von einer Inhaltstransformation im Sinne eines Medienwechsels sprechen. Bei Schematisierungen aller Art findet also eine Übersetzungs- oder Umformungsleistung statt. Die Methode zeichnet sich, so die Philosophin Sybille Krämer, durch ihre „Schriftbildlichkeit“ aus. Sie vereint Schrift und Bild in sich und bildet so eine hybride Form, wenn es darum geht, Daten, Strukturen und Prozesse bildlich darzustellen.

Anwendungsszenario von Schematisierung: In VR könnte die Schematisierung bspw. für die Vermittlung komplexer Strukturen verwendet werden. Mittels einer solchen Visualisierungsstrategie lässt sich z. B. ein „erweiterter Wirtschaftskreislauf“ in VR darstellen, der Lernenden interaktiv zugänglich gemacht wird: Was wäre, wenn die Güter-, Geld- und Leistungsströme zwischen Unternehmen, Privathaushalten und dem Staat gestört würden? Statt stets auf die immer gleichen schematischen Darstellungen zurückzugreifen, deren Erkenntniswert oft nur im allgemeinen Zusammenhang liegt, ließe sich in VR auf den Kreislauf der verschiedenen Ströme Einfluss nehmen. Indem der Lernende selbst signifikante Variablen steuert, erlebt er direkt, welche Kausalbeziehungen zwischen den einzelnen Sektoren in einem Wirtschaftskreislauf bestehen.

Fazit

Die Verbindung der „ontischen Offenheit“ von virtuell-immersiven Bildungsanwendungen und der Einsatz von klassischen Visualisierungsstrategien, vor allem aus den Naturwissenschaften, ermöglichen nicht nur eine Hands-On-Didaktik, sondern auch die freie Gestaltung von Lernräumen und die Erweiterung von daraus entstehenden Vermittlungsmethoden. Das enorme Potential von VR kann ausgeschöpft werden, um ein nachhaltigeres Lernen zu ermöglichen und komplexe, für das menschliche Auge unsichtbare Strukturen und Prozesse neu zu veranschaulichen. Für Pädagoginnen und Pädagogen steht, dank des Bildungsmediums Virtual Reality in Verbindung mit Wissenschaftsvisualisierungen, regelrecht eine komplett neue Welt offen!

Bild: Bradley Hook (Pexels, Pexels Lizenz)

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