21.02.2022 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans Böckler Stiftung.
Der mittlere Zuwachs (Medianwert) betrug zum 1. Januar 2022 in der Europäischen Union 4,0 Prozent und fiel damit etwas größer aus als im Vorjahr (3,1 Prozent), das noch ganz im Zeichen der Corona-Pandemie stand. Aufgrund der höheren Verbraucherpreise lag die reale, inflationsbereinigte Steigerung in diesem Jahr aber nur bei 1,4 Prozent und war damit etwas geringer als 2021 (1,6 Prozent). Das ergibt der neue Mindestlohnbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.
Mit einem Mindestlohn von aktuell 9,82 Euro steht Deutschland derzeit unter den westeuropäischen EU-Ländern – wie durchgängig seit Einführung des deutschen Mindestlohns – noch an sechster und letzter Stelle (siehe Abbildung 1 in der pdf-Version dieser PM; Link unten). Deutlich höhere Mindestlöhne haben die Niederlande (10,58 Euro), Frankreich (10,57 Euro), Irland (10,50 Euro) sowie Belgien (10,25 Euro). Mit der bereits beschlossenen Anhebung auf 10,45 Euro zum 1. Juli 2022 schließt Deutschland zu dieser Gruppe auf, mit der geplanten Einführung eines Mindestlohns von 12 Euro zum 1. Oktober 2022 würde Deutschland sogar „vom bisherigen Nachzügler in der Mindestlohnpolitik zu einem Vorreiter“ avancieren, schreiben die Autoren der Studie, Dr. Malte Lübker und Prof. Dr. Thorsten Schulten. Innerhalb der Europäischen Union wäre die Bundesrepublik damit an zweiter Position nach Luxemburg, wo ein Mindestlohn von aktuell 13,05 Euro gilt. Außerhalb der EU haben aktuell Australien mit umgerechnet 12,91 Euro und Neuseeland (11,96 Euro) ein ähnliches Niveau. In Großbritannien wird der Mindestlohn im April diesen Jahres auf umgerechnet 11,05 Euro angehoben.
Für Deutschland entspricht ein Mindestlohn von 12 Euro in etwa der Schwelle von 60 Prozent des Medianlohns, die international als Richtwert für ein angemessenes Mindestlohnniveau gilt. Auch die Europäische Kommission bezieht sich in ihrem Entwurf für eine Europäische Mindestlohnrichtlinie, die mit einiger Wahrscheinlichkeit in diesem Jahr verabschiedet wird, auf dieses Kriterium. Nach Berechnungen der Industrieländer-Organisation OECD lag Deutschland zuletzt mit einem Wert von nur 50,7 Prozent noch weit unterhalb dieser Schwelle (siehe Abbildung 2 in der pdf-Version). Im Vergleich zum nationalen Lohnniveau deutlich höhere Mindestlöhne haben beispielsweise Portugal (65,1 Prozent des Medianlohns) und Frankreich (61,2 Prozent). Außerhalb der EU sind Neuseeland (64,7 Prozent), Korea (62,5 Prozent) und Großbritannien (57,6 Prozent) in den letzten Jahren den Schritt zu höheren Mindestlöhnen gegangen, ohne dass es dabei zu nennenswerten Beschäftigungsverlusten gekommen ist.
Die WSI-Experten Lübker und Schulten konstatieren insgesamt einen Aufbruch in der deutschen und europäischen Mindestlohnpolitik, die sich stärker als bisher am Ziel eines angemessenen Lohnniveaus orientiert. Impulse dazu kämen nicht nur von der EU-Kommission, sondern beispielsweise auch aus dem Europäischen Parlament (EP). Das EP hat im November mit großer Mehrheit einen eigenen Richtlinienvorschlag verabschiedet, der in Teilen noch einmal deutlich über den Kommissionsvorschlag hinausgehe, so die Forscher. Im Ex-EU-Land Großbritannien soll der Mindestlohn bis 2024 auf zwei Drittel des Medianlohns steigen.
Bezogen auf Deutschland regen die Forscher an, die Schwelle von 60 Prozent des Medianlohns als Kriterium für künftige Anpassungen des Mindestlohns auch gesetzlich zu verankern. „Dieser Schritt würde das Mandat der Mindestlohnkommission stärken und ihren Handlungsspielraum für die Zukunft erweitern“, bilanzieren Lübker und Schulten. „Dies würde verdeutlichen, dass es der Bundesregierung um die nachhaltige Etablierung eines angemessenen Mindestlohnniveaus geht.“ Im März 2021 hatten Arbeitsminister Hubertus Heil und der damalige Finanzminister Olaf Scholz in einem gemeinsamen Papier angekündigt, den bisherigen Prüfkatalog in § 9 Abs. 2 des Mindestlohngesetzes (MiLoG) um das 60 Prozent Kriterium zu ergänzen. Im kürzlich öffentlich gewordenen Referentenentwurf für das Mindestlohnerhöhungsgesetz (MiLoEG) fehlt eine entsprechende Gesetzesänderung allerdings.
18 EU-Staaten haben ihre Mindestlöhne zum 1. Januar 2022 im Jahresvergleich erhöht, Bulgarien wird zum 1. April nachziehen, ebenso wie das Ex-Mitglied Großbritannien. Luxemburg hat die Lohnuntergrenze zuletzt im Herbst 2021 angehoben. Jenseits des EU-Mittelwerts von 4,0 Prozent zeigt sich eine erhebliche Bandbreite bei den nominalen Zuwächsen. Die prozentual stärksten Anhebungen verzeichnen, wie in den Vorjahren, die meisten mittel- und osteuropäischen EU-Länder, wo die nominalen Zuwachsraten im Jahresvergleich zwischen 3,6 Prozent in der Slowakei und 24,2 Prozent in Ungarn liegen. In den west- und südeuropäischen Mitgliedsländern reichen die Anhebungen von 1,0 Prozent in Malta, 2,4 Prozent in den Niederlanden, 3,1 Prozent in Frankreich bis zu 6,0 Prozent in Portugal. Wegen der relativ starken Preissteigerung fallen die realen Erhöhungen in vielen Ländern deutlich niedriger aus. Der deutsche Mindestlohn wurde zum Jahresanfang nominal um 3,4 Prozent auf 9,82 Euro erhöht. Bliebe es dabei, wäre der reale Anstieg mit 0,1 Prozent minimal. Durch die Anhebung auf 10,45 Euro zum 1. Juli und die von der Ampelkoalition angekündigte Erhöhung auf 12 Euro zum 1. Oktober können Menschen, die in Deutschland zum Mindestlohn arbeiten, aber mit deutlichen realen Zuwächsen rechnen.
In den westeuropäischen EU-Nachbarländern mit Mindestlohn betragen die niedrigsten erlaubten Brutto-Stundenlöhne aktuell zwischen 10,25 Euro in Belgien und 13,05 Euro in Luxemburg. Keinen Mindestlohn haben Österreich, die nordischen Länder und Italien. In diesen Staaten besteht aber eine sehr hohe Tarifbindung, die auch vom Staat stark unterstützt wird. Faktisch ziehen dort also Tarifverträge eine allgemeine Untergrenze ein, sodass der Niedriglohnsektor in diesen Ländern deutlich kleiner als in Deutschland ist.
Die Mindestlöhne in den südeuropäischen EU-Staaten reichen von 3,83 Euro in Griechenland und 4,25 Euro in Portugal bis zu 6,06 Euro in Spanien, wo erst vor wenigen Tagen eine rückwirkende Anhebung zum 1. Januar 2022 beschlossen wurde. Etwas darüber liegt mit 6,21 Euro Slowenien. In den meisten anderen mittel- und osteuropäischen Staaten sind die Mindestlöhne niedriger. Allerdings haben sie durch die stärkeren Zuwächse meist etwas aufgeholt. So müssen etwa in der Tschechischen Republik nun umgerechnet mindestens 3,76 Euro pro Stunde gezahlt werden, in Polen mindestens 3,81 Euro und in Litauen 4,47 Euro. Die niedrigsten EU Mindestlöhne gelten in Bulgarien mit 2,00 Euro und in Lettland mit 2,96 Euro.
Die Niveauunterschiede spiegeln zum Teil unterschiedliche Lebenshaltungskosten wider. Legt man Kaufkraftstandards (KKS) zugrunde, reduziert sich der Abstand zwischen den EU-Ländern mit niedriger und relativ hoher Untergrenze spürbar. Polen, Rumänien oder Tschechien liegen bei dieser Betrachtungsweise beispielsweise vor Portugal und Griechenland. Wer in Deutschland zum Mindestlohn bezahlt wird, profitiert etwas vom im westeuropäischen Vergleich niedrigeren Preisniveau. Allerdings bleibt seine Kaufkraft aktuell trotzdem noch hinter der von Mindestlohnempfängerinnen und -empfängern in Luxemburg, Frankreich und den Niederlanden.
Auch außerhalb der EU sind Mindestlöhne weit verbreitet. Exemplarisch betrachtet das WSI die Mindestlöhne in 16 Nicht-EU-Ländern mit ganz unterschiedlichen Mindestlohnhöhen. Sie reichen von umgerechnet 0,83 Euro in Moldawien, 0,86 Euro in Brasilien, 0,92 Euro landesweit in Russland über 6,13 Euro in den USA und 7,16 Euro in Japan bis zu umgerechnet 11,96 Euro in Neuseeland und 12,91 Euro in Australien. Insbesondere in den USA, wo der landesweite Mindestlohn seit 2009 nicht mehr erhöht wurde, gibt es neben der sehr niedrigen nationalen höhere regionale Untergrenzen. So beträgt der Mindestlohn in Kalifornien umgerechnet 11,84 Euro und in New York 11,16 Euro; noch höher ist der Mindestlohn in Washington DC (15,20 Dollar, umgerechnet 12,85 Euro).
Malte Lübker, Thorsten Schulten: WSI-Mindestlohnbericht 2022: Aufbruch zu einer neuen Mindestlohnpolitik in Deutschland und Europa. WSI-Report Nr. 71, Februar 2022.
Bild: Skitterphoto (Pexels, Pexels Lizenz)