18.08.2020 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans-Böckler-Stiftung.
Besonders groß ist der Rückstand beim Krankengeld: maximal 697 Euro weniger gibt es im Monat, obwohl ebenso viel an Sozialbeiträgen gezahlt wurde, zeigen Berechnungen in einer neuen, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Studie. Das liegt daran, dass diese Lohnersatzleistungen, wie auch das Kurzarbeitergeld, anhand des Nettoeinkommens berechnet werden und in der Lohnsteuerklasse V überproportional hohe Steuerabzüge das Netto reduzieren. Da in dieser Lohnsteuerklasse sowohl bei der Berechnung des Nettoeinkommens, als auch beim Bezug von Lohnersatzleistungen zu rund 90 % verheiratete Frauen sind, stellen diese Steuerregelungen nach Einschätzung der Studienautorinnen Dr. Ulrike Spangenberg, Prof. Dr. Gisela Färber und Corinna Späth eine mittelbare Geschlechterdiskriminierung dar und verstoßen gegen den Artikel 3 des Grundgesetzes.
Nach Analyse der Juristin und der beiden Finanzwissenschaftlerinnen verletzen Detailregelungen beim Elterngeld zudem auch den in Artikel 6 GG gebotenen besonderen Schutz der Familie, weil sie unverheiratete Eltern und Alleinerziehende benachteiligen. Die Forscherinnen vom Institut für gleichstellungsorientierte Prozesse und Strategien in Berlin und von der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften in Speyer skizzieren Optionen für eine Reform, die die vor allem Frauen treffenden Benachteiligungen in Bezug auf die Höhe des Nettoeinkommens und die Höhe von Lohnersatzleistungen beenden würde. Umgekehrt würden die bislang nach Klasse III besteuerten Personen – meist die Ehemänner – beim Nettoeinkommen und beim Anspruch auf Lohnersatzleistungen weniger Geld erhalten als bisher. Muss diese Person Lohnersatzleistungen beziehen, könnte sich dadurch auch das Gesamteinkommen des Haushalts reduzieren. Diese Einkommensverluste ließen sich, so die Forscherinnen, aber durch eine Anhebung der Lohnersatzraten für alle Beschäftigten kompensieren – unabhängig von Geschlecht oder Familienstand.
Bei vielen verheirateten Paaren versteuert die Person mit dem höheren Bruttoeinkommen – meist der Ehemann – nach Steuerklasse III, die Ehefrau ist häufig in Steuerklasse V. Der finanzielle Vorteil des Ehegattensplittings fällt dann bei der Person in Steuerklasse III an, weil hier unter anderem die gemeinsamen Grundfreibeträge angerechnet werden. Die Person in Steuerklasse III erzielt demzufolge ein höheres monatliches Nettoeinkommen als eine ledige Person mit gleichem Bruttoeinkommen. Demgegenüber zahlt die Person in Lohnsteuerklasse V nicht nur im Verhältnis zu Ledigen deutlich höhere Lohnsteuern und erhält entsprechend weniger netto ausbezahlt. Sie trägt auch einen Teil der Lohnsteuer in Steuerklasse III mit. Die Person in Steuerklasse V „überzahlt“ also bei der Lohnsteuer, während die Person in III „unterzahlt“. Schaut man auf das Netto-Gesamteinkommen des Paares, ist es durch das Splitting fast immer höher als das von zwei Unverheirateten. Allerdings bei deutlicher individueller Unwucht: „Die Vorteile der Steuerklassenkombination III/V für das monatliche Haushaltseinkommen werden durch Nachteile zulasten von Frauen erkauft“, schreiben Spangenberg, Färber und Späth. Einen rechtlichen Anspruch, dass die Person in Lohnsteuerklasse III den finanziellen Vorteil teilt, gibt es nur dann, so der Bundesgerichtshof, wenn die Eheleute ausdrücklich vereinbaren, dass die zu viel gezahlte Lohnsteuer oder der Verlust bei den Lohnersatzleistungen eheintern ausgeglichen wird.
Besonders drastisch wirken sich die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Steuerklassen beim Bezug von Lohnersatzleistungen aus. Denn die werden meist als %ualer Anteil vom individuellen Nettoeinkommen berechnet. Eigentlich ein übersichtliches, pragmatisches Verfahren. In Kombination mit den Steuerklassen III und V führt es allerdings zu erheblichen finanziellen Ungleichheiten, die faktisch meistens Frauen benachteiligen. Für Krankengeld, Arbeitslosengeld I und Elterngeld haben die Wissenschaftlerinnen die Effekte beispielhaft berechnet. Dazu vergleichen sie, wie hoch die Leistungen an Personen in den Lohnsteuerklassen III und V sind, die ein gleich hohes Bruttoeinkommen haben – und dementsprechend zuvor gleich viel an Beiträgen für die Kranken- und die Arbeitslosenversicherung gezahlt haben:
Grundsätzlich sind die entsprechenden Steuergesetze natürlich geschlechtsneutral formuliert, keine Regelung „zwingt“ Verheiratete dazu, dass der Mann in Steuerklasse III versteuert und die Frau in Klasse V. Es gibt mit der Lohnsteuerklasse IV für beide oder dem so genannten Faktorverfahren sogar längst eine Alternative, die die Unwucht minimiert. Doch viele Paare bleiben bei der traditionellen Aufteilung, auch weil das Steuersystem entsprechende Anreize setzt. Denn Paare mit den Lohnsteuerklassen III/V haben zwar bei der endgültigen Berechnung der Jahreseinkommensteuer im Rahmen der Einkommensteuererklärung keinen größeren Splittingeffekt, wohl aber einen Zeitvorteil. Denn anders als bei IV/IV oder beim Faktorverfahren sind ihre unterjährig laufenden monatlichen Abzüge meist zu niedrig angesetzt. Das führt zwar zu Steuernachforderungen des Finanzamtes, diese fallen aber frühestens ein Jahr später bei der Einkommensteuererklärung an. Zudem ist das Faktorverfahren für die Steuerzahlenden bislang bürokratisch aufwendiger. Wer die Lohnsteuerklassen IV/IV ohne Faktor wählt, kann den Splittingvorteil sogar erst nachträglich über den Lohnsteuerjahresausgleich geltend machen.
Unter dem Strich seien die Regelungen zu den Steuerklassen III/V nicht mit der Gleichberechtigung von Frauen und Männern in Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes vereinbar, betonen die Juristin Spangenberg, die Finanzwissenschaftlerin Färber und die Verwaltungswissenschaftlerin Späth. Denn auch geschlechtsneutral formulierte Regelungen könnten „diskriminierend sein, wenn sie sich faktisch, das heißt in der gesellschaftlichen Realität, zum Nachteil von Frauen auswirken.“ Und das stehe außer Zweifel, insbesondere beim Bezug von Lohnersatzleistungen: Im Jahr 2015 waren 93 % der Personen mit einer Ersatzleistung und Steuerklasse V Frauen. Im Vergleich zum %satz von Frauen in Steuerklasse III bei der Berechnung des Nettoeinkommens (21 %) ist der %satz in Steuerklasse III beim Bezug von Lohnersatzleistungen mit 43 % zwar relativ hoch. Das liegt aber vor allem an den Wechselmöglichkeiten beim Elterngeld. Beim Arbeitslosen- oder Krankengeld gilt der Wechsel von V zu III in der Regel als rechtsmissbräuchlich.
Als Reformoption für die Berechnung des monatlichen Nettoeinkommens sehen die Wissenschaftlerinnen die Abschaffung von Steuerklasse V. Die bestehende Alternative, Steuerklasse IV oder das Faktorverfahren für beide Eheleute, würde die „geschlechtsbezogenen Nachteile bei der Berechnung der Lohnsteuer beseitigen“. Der finanzielle Vorteil des Ehegattensplittings bliebe für das Paar erhalten, er würde aber annähernd gleich aufgeteilt.
Für die Lohnersatzleistungen schlagen die Wissenschaftlerinnen generell die Berechnung anhand der Steuerklasse IV vor, um nicht nur die Nachteile der Steuerklasse V, sondern auch die Benachteiligung von Alleinerziehenden und anderen nicht verheirateten Eltern zu beseitigen. Im Beispielfall mit 5000 Euro monatlichem Bruttoeinkommen hätte jeder Partner und jede Partnerin dann Anspruch etwa auf das gleiche Krankengeld in Höhe von 2355 Euro.
Die Reformoptionen gewährleisten, dass Lohnsteuer, Nettoeinkommen und Lohnersatzleistungen auch innerhalb der Ehe gerecht aufgeteilt sind und der Höhe nach dem individuellen Bruttoeinkommen entsprechen, betonen die Forscherinnen. Sie weisen allerdings auch darauf hin, dass es bei der Reform ohne weitere Flankierung „Verlierer“ geben würde. Wer bislang nach Lohnsteuerklasse III versteuert, würde mit Steuerklasse IV einen Teil der bisherigen individuellen Vorteile beim Nettoeinkommen einbüßen. Im Fall, dass dieser Partner künftig auf – entsprechend niedrigere – Lohnersatzleistungen angewiesen ist, könnte das auch das Haushaltseinkommen des Paares insgesamt reduzieren. Um solche Effekte zu kompensieren, könnten die Lohnersatzraten für alle Beschäftigten angehoben werden, schreiben die Wissenschaftlerinnen.
Ulrike Spangenberg, Gisela Färber und Corinna Späth: Mittelbare Diskriminierung im Lohnsteuerverfahren. Auswirkungen der Lohnsteuerklassen auf Nettoeinkommen und Lohnersatzleistungen (pdf). Working Paper der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung Nr. 190, Juli 2020.
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