23.11.2021 — Malte Struckmann. Quelle: Verlag Dashöfer GmbH.
Die 80er hatten Hair Metal. In den 90ern war die Zeit des Plastik-Rocks langsam vorbei und der Grunge brannte ein schnelles, aber intensives Feuerwerk ab. Echte Gefühle waren angesagt und mit der Love Parade war man endgültig in der Spaßgesellschaft angekommen. Die Nullerjahre waren das Jahrzehnt der Gleichgültigkeit, die in der Figur des ironischen Hipsters ihre Personifikation erfuhr. Auch konnte man zeitweise Gruppen von Emos antreffen, die sich an öffentlichen Plätzen tummelten, aber die wollten… ja, was eigentlich?
Es gab also immer kulturelle Bewegungen, die sich durch einen Stil definierten, der mehr war als nur reine Ästhetik. Der Boom der Internetplattformen hat durch die Pandemie noch einmal an Boden gewonnen. Boden, der sehr fruchtbar ist für die Triebe kultureller Blüten. So haben sich einige ästhetische Trends entwickelt, die unter Begriffen wie Dark Academia und Cottagecore firmieren.
Ein Trend, den es schon seit 2010 gibt, der aber erst durch TikTok und Co. die breite Öffentlichkeit erreicht hat, ist Cottagcore. Das Wort Cottagecore setzte sich zusammen aus „Cottage“ (engl. für Landhaus) und „Core“, was dem englischen Wort „Hardcore“ entlehnt ist. Steht die Endung „Core“ seit Mitte der 80er für den politischen Gehalt diverser musikalischer Genres, hat dieser Ästhetik-Trend nur noch indirekt etwas damit gemein. „Core“ steht vielmehr auf die übertriebene Romantisierung einer europäisch geprägten bäuerlichen Lebensart, die es vermutlich so nie gegeben hat.
Auf den TikTok- und Instagram-Profilen der Cottagecore Ästheten gibt es alte reetgedeckte Landhäuser, üppige Picknickdecken mit frisch gebackenem Brot, getrocknete Blumen, handgeschriebene Briefe und wehende Kleider in gedeckten Farben zu sehen. Als entstamme das Design aus einem Charlotte Brontë Roman. Doch diese Übertreibung muss nicht zwangsläufig etwas Schlechtes bedeuten. Vielleicht drückt sich hier das Bedürfnis einer Generation von Digital-Natives nach einer einfacheren, entschleunigteren Lebensweise aus.
Es mag zwar anachronistisch anmuten, wenn die Feier vergangener bäuerlicher Bescheidenheit mit den neuesten Smartphones inszeniert wird, doch geht es bei Cottagecore auch viel darum, Dinge selbst zu machen, wie etwa sein eigenes Brot zu backen, Kleidung zu nähen etc. Dies lässt sich durchaus auch als Plädoyer für eine konsumkritische bewusstere Lebensweise lesen und passt damit ganz gut zum Achtsamkeitstrend.
Auch die Ästhetik mit dem Namen Dark Academia lebt von der romantischen Übertreibung des universitären Lebens der 1920er bis 1930er Jahre. Das Dunkle im Namen bezieht sich sowohl auf den Kleidungsstil, mit seinen schwarzen Rollkragenpullovern und braunen Tweed Jacketts, aber auch auf die düstere Geisteshaltung, welche nach außen transportiert werden soll. Nachdenklichkeit und Melancholie gehören zum akademischen Chic. Die Inspiration kommt aus Filmen wie „Der Club der toten Dichter“ oder aus Büchern wie „Moby Dick“.
Es wird sich als Jemand aus einer untergegangenen, europäisch geprägten, privilegierten Gesellschaftsklasse inszeniert. Doch durch die rein visuelle Komponente muss niemand wirklich ein Risiko eingehen und die Komfortzone seiner Klasse verlassen. Der Druck der Leistungsgesellschaft wird hier im Sinne einer neoliberalen Haltung zu einer romantischen Formel umgedichtet. Es wird die Vorstellung suggeriert, dass man es schaffen kann – wenn man sich nur anstrengt. Aber man kann es ja gar nicht schaffen, also wird sich notwendig in der wohligen Düsternis eines akademischen Lebens eingerichtet, das spätestens seit der Bologna-Reform so nicht mehr existiert, um eben diesen Leistungsdruck auszuhalten.
Die Hinwendung zur eigenen Kultur und Geschichte ist ein Merkmal der Romantik. Dahingehend romantisch ist auch das Interesse solcher Ästhetik-Trends wie Cottagecore und Dark Academia an dem Ursprünglichen und Besinnlichen vergangener Tage. Es hat doch etwas von Weltflucht (was durchaus legitim ist), nur dass einem alle dabei zuschauen. Die öffentlich gemachte Hinwendung zum Privaten. Frei nach dem Motto: Was nicht auf Instagram und TikTok passiert, das ist gar nicht passiert.
Es soll angeblich um die 600 solcher „Visual Movements“ geben. Die Identitätsstiftung solcher Internet Trends findet also visuell statt. Ein Motiv des Romantischen ist das Spiegelfragment. Dies findet sich z. B. in der Mosaikhaftigkeit der Instagram-Benutzeroberfläche wieder. Mit dem Smartphone lässt sich in vielen kleinen „Spiegelfragmenten“ eine Version unserer Welt darstellen, in der beispielsweise auch den prekären Bedingungen des Akademikeralltags noch etwas Schönes abgerungen werden kann.
Quellen und Hintergründe:
Bild: Giammarco (Unsplash, Unsplash Lizenz)
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