23.09.2014 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Taylor Wessing Deutschland.
Gesundheit- und Arbeitsschutz haben Konjunktur, wie sich jüngst an den Diskussionen um die Anti-Stress-Verordnung gezeigt hat. Nach geltendem Recht ist jeder Arbeitgeber verpflichtet – egal ob Großkonzern, Mittelstand oder Kleinbetrieb, egal ob öffentlicher Sektor oder Privatwirtschaft –, Arbeitsplätze auf deren Gefährdungen hin zu beurteilen. „Mut zur Lücke“ ist schon längst keine Option mehr, zumal Behörden, Betriebsräte und Öffentlichkeit immer mehr sensibilisiert sind. Die Gemeinsame Deutsche Arbeitsstrategie (GDA) kündigte jüngst an, den Fokus stärker auf die Gefährdungsbeurteilung zu legen.
So sehr allgemeine Übereinstimmung herrscht, dass Gesundheits- und Arbeitsschutz ernst zu nehmen sind, so sehr kann über die betriebliche Umsetzung gestritten werden. Dies liegt auch daran, dass eine Vielzahl von Arbeitsschutzverordnungen zu beachten und viele Rechtsfragen noch nicht geklärt sind. Gibt es im Betrieb einen Betriebsrat, so hat dieser ein umfassendes Mitbestimmungsrecht. Oftmals ist dann der Weg in die sogenannte Einigungsstelle vorprogrammiert. Diese ist für den Arbeitgeber mit erheblichen Kosten verbunden. Zudem besteht das Risiko, dass die Einigungsstelle eine für den Arbeitgeber ungünstige Entscheidung („Spruch“) trifft. Strategische Beratung ist daher bereits im Vorfeld anzuraten.
Die Frage, in welchen Grenzen ein solcher Spruch überprüfbar ist, hatte das Bundesarbeitsgericht (BAG) im Februar 2014 zu beantworten (BAG, Beschluss vom 11. Februar 2014, 1 ABR 72/12). Die Entscheidung des BAG ist umso bemerkenswerter, als es sich bei der streitigen Thematik um eine relativ überschaubare Facette des betrieblichen Gesundheitsschutzes handelt, nämlich um die Gefährdungsbeurteilung von Bildschirmarbeitsplätzen nach der Bildschirmarbeitsverordnung. Allein die Dauer von insgesamt sieben Jahren für Einigungsstelle und gerichtlichen Verfahren verdeutlichen den vom Arbeitgeber zu tragenden Aufwand.
Die Arbeitgeberin befand sich seit April 2007 in der Einigungsstelle „Verhütung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sowie Gesundheitsschutz und Arbeitssicherheit“. Zwei Jahre und zwölf Sitzungen später unterzeichneten Betriebsrat und Arbeitgeberin im Mai 2009 eine „Zwischenvereinbarung über die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung an Bildschirmarbeitsplätzen.“ Danach sollte zuerst eine Grobanalyse von verschiedenen Arbeitsbereichen anhand Fragebögen durchgeführt werden. Bei Bedarf sollte eine Feinanalyse folgen. Einzelheiten der Grob- und der Feinanalyse waren in Anhängen zur Vereinbarung beschrieben. Falls sich Betriebsrat und Arbeitgeberin nicht einigen, sollte die Einigungsstelle final entscheiden.
Es kam wie es kommen musste: Die Grobanalyse wurde durchgeführt, der Sachverständige stellte Handlungsbedarf fest, die Parteien konnten sich aber nicht über das weitere Vorgehen verständigen. Die Arbeitgeberin beantragte in der 16. Sitzung im Mai 2010, dass die Gefährdungsbeurteilung auf einen darauf spezialisierten externen Dienstleister übertragen wird. Die Einigungsstelle wies den Antrag der Arbeitgeberin zurück und verpflichtete auf Antrag des Betriebsrats den Arbeitgeber, die Feinanalyse gemäß der Vereinbarung durchzuführen.
Allerdings beachtete die Einigungsstelle nicht, dass in zwischenzeitlich neu angemieteten Räumen des Arbeitgebers noch keine Grobanalyse vorgenommen wurde. Zudem wurde übersehen, dass es aufgrund von Umzügen zu „Veränderungen in der Umgebungsbelastung“ gekommen ist (Beurteilungsbereiche: „Lärm“, „Klima“, „Beleuchtung“, „soziale Rückendeckung unter Kollegen und Vorgesetzten“). Der Arbeitgeber ging gegen diesen Spruch der Einigungsstelle vor und bekam im Jahr 2014 schließlich vom BAG Recht.
Das BAG hielt – wie das Landesarbeitsgericht – den Spruch der Einigungsstelle für unwirksam. Die relativ kurze Entscheidung betont eingangs die Bedeutung des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats bei der Gefährdungsbeurteilung. Dieses solle im Interesse der betroffenen Arbeitnehmer „eine möglichst effiziente Durchsetzung des gesetzlichen Arbeitsschutzes“ erreichen. Das Mitbestimmungsrecht greife gerade bei der im Gesetz nicht näher ausgestalteten Gefährdungsbeurteilung, die nach dem BAG ein zentrales Element des Gesundheitsschutzes ist.
Werde über die Durchführung der Gefährdungsbeurteilung keine Einigung erzielt, so müsse die Einigungsstelle die streitige Angelegenheit „vollständig“ entscheiden und eine „abschließende Regelung“ treffen. Zwar hätten die Betriebsparteien nach einer Vielzahl von erfolglosen Verhandlungsrunden den weiten Regelungsgegenstand der Einigungsstelle auf die Gefährdungsanalyse von Bildschirmarbeitsplätzen wirksam beschränkt. Doch habe die Einigungsstelle nicht berücksichtigt, dass noch nicht die Voraussetzungen für eine Feinanalyse vorlagen. Ob die Feinanalyse überhaupt erforderlich sei, könne dahinstehen.
Die Entscheidung steht im Kontext zu der seit 2004 verstärkt feststellbaren Entwicklung, welche das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Gefährdungsbeurteilung stärkt. Auch im öffentlichen Dienst ist diese Entwicklung zu beobachten. Erst jüngst hat beispielsweise das Bundesverwaltungsgericht wichtige Impulse für das Beteiligungsrecht der Personalräte im Gesundheits- und Arbeitsschutz gesetzt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. Februar 2013, 6 PB 1/13). Das BAG betont zu Recht, dass Einigungsstellensprüche vollständige und abschließende Regelungen treffen müssen. Werden die Voraussetzungen einer Gefährdungsbeurteilung verkannt, kann dieser Rechtsfehler grundsätzlich zeitlich unbegrenzt angefochten werden.
Erfreulicherweise scheint das BAG im konkreten Fall keine größeren Bedenken gegen die eingesetzte Methode zu haben. Tendenziell könnte dies ein Zeichen dafür sein, dass eine wissenschaftlich anerkannte Methode der Gefährdungsbeurteilung keiner allzu detaillierten rechtlichen Prüfung durch das BAG unterliegt. Inwieweit die Methode selbst – hier ein zweistufiges Verfahren, Grob- und Feinanalyse – im Einzelnen erforderlich ist, ließ das BAG dahinstehen. Hier besteht also weiterhin Rechtsunsicherheit.
Im Ergebnis verpflichtet das BAG alle Beteiligten, sich intensiv mit der Gefährdungsbeurteilung auseinanderzusetzen. Im konkreten Fall fühlt sich der Betrachter angesichts des Aufwandes und der siebenjährigen Dauer von Einigungsstelle und Gerichtsverfahren ein wenig an Peter Maffays Schlager „Über sieben Brücken musst du gehen, sieben dunkle Jahre überstehen“ erinnert. Für den Arbeitgeber dürfte die Entscheidung des BAG nur ein Pyrrhussieg und ein schwacher Trost sein. Denn die Betriebsparteien müssen weiter um die richtige Lösung der betrieblichen Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung ringen.
Bundesarbeitsgericht, Beschluss vom 11. Februar 2014, 1 ABR 72/12
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