29.11.2011 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Thorsten Reichmuth, BLC Business .
Unternehmen könnten mit der Einführung von internen Whistleblowing-Systemen reagieren, um sich vor solchen Anzeigen zu schützen. Wie der Betriebsrat dem entgegnen kann, das erläutert Thorsten Reichmuth.
Der Begriff „Whistleblowing“ stammt aus dem Englischen und kann mit „Alarm geben, verpfeifen“ übersetzt werden. Damit ist gemeint, dass Arbeitnehmer Informationen aus dem Unternehmen, die ein illegales Handeln belegen, an eine geeignete Stelle oder Institution weitergeben. Dabei ist zwischen internem und externem Whistleblowing zu unterscheiden, also ob die Meldestelle Teil des Unternehmens ist oder außerhalb des Unternehmens steht (z.B. Staatsanwaltschaft). Gerade bei Letzterem riskiert der Arbeitnehmer – aufgrund der Verletzung seiner Loyalität zum Arbeitgeber als arbeitsvertraglicher Nebenpflicht – eine Kündigung.
Ob durch eine Anzeige die Loyalitätspflicht in so hohem Ausmaß verletzt wird, dass eine fristlose Kündigung gerechtfertigt ist, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. In einem aktuellen Fall hatte die Mitarbeiterin eines Pflegedienstes ihren Arbeitgeber mehrfach auf die Überlastung des Personals hingewiesen. Nachdem sie wegen der Arbeitsüberlastung erkrankte und die Geschäftsführung auf einen erneuten Hinweis, dass die hygienische Versorgung der Patienten aufgrund des Personalmangels nicht mehr gewährleistet sei, nicht reagierte, erstattete die Arbeitnehmerin Anzeige. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen nach kurzer Zeit ein. Aufgrund der mehrfachen Erkrankung kündigte der Arbeitgeber der Mitarbeiterin, die daraufhin in einem Flugblatt unter anderem kundtat, die Kündigung sei eine Reaktion auf ihre Anzeige. Der Arbeitgeber wusste bis zu diesem Zeitpunkt jedoch nichts von der Anzeige und nahm sie zum Anlass, eine fristlose Kündigung auszusprechen.
Das Arbeitsgericht (39 Ca 4775/05) erklärte die fristlose Kündigung mit Hinweis auf die Meinungsfreiheit für unrechtmäßig. Das Landesarbeitsgericht (7 Sa 1884/05) hob das Urteil auf. Es sah in der Anzeige einen Vertrauensbruch und eine Verletzung der Loyalitätspflicht, was einen wichtigen Grund für eine Kündigung nach § 626 BGB darstelle. Das Bundesarbeitsgericht (4 AZN 487/06) bestätigte das Urteil, das Bundesverfassungsgericht nahm ihre Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an.
Erst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) rückte die Verhältnisse am 21.07.2011 (28274/08) wieder richtig, indem er die Kündigung als ungerechtfertigt beurteilte. Die Anzeige sei durch die Freiheit der Meinungsäußerung (vgl. Art. 10 EMRK [Europäische Menschenrechtskonvention]) geschützt gewesen, die auch am Arbeitsplatz gilt. Die Straßburger Richter kamen zu dem Schluss, dass das öffentliche Interesse an Informationen über Mängel in staatlichen Pflegeeinrichtungen im Einzelfall höher zu bewerten sei als das Interesse des Pflegekonzerns an seinem guten Ruf.
Der Arbeitnehmer ist nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Sinne der Loyalität regelmäßig dazu verpflichtet, das Fehlverhalten zunächst innerbetrieblich anzusprechen. Davon könne nur abgewichen werden, wenn die innerbetriebliche Klärung eindeutig unmöglich ist und eine Besserung vernünftigerweise nicht erwartet werden kann. Da die Mitarbeiterin wiederholt auf die Missstände hingewiesen hatte, ohne dass der Arbeitgeber Maßnahmen zur Verbesserung ergriff, sei sie ihrer Loyalitätspflicht im angemessenen Maß nachgekommen, so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte.
Für die Verhältnismäßigkeit einer Anzeige müssten die weitergegebenen Informationen wahr bzw. richtig sein, so das Gericht. Im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts dürften nicht wissentliche unwahre oder falsche Aussagen nicht zu Lasten des Arbeitnehmers ausgelegt werden. Die Einstellung von Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft bedeute nicht zwingend, dass die Aussagen des Arbeitnehmers wissentlich falsch waren, da es zu den Aufgaben der Ermittlungsbehörden gehöre, den Wahrheitsgehalt erst zu ergründen. Erfolge eine Anzeige in gutem Glauben, dürften aus der Inanspruchnahme verfassungsmäßiger Rechte keine Nachteile entstehen. Der Gerichtshof sieht den guten Glauben als gegeben an, wenn vernünftige Gründe vorliegen, die weitergegebenen Informationen für wahr zu halten. Im vorliegenden Fall war aus Sicht der Straßburger Richter daran nicht zu zweifeln.
Da die deutschen Gerichte keinen angemessenen Ausgleich zwischen der Altenpflegerin und dem Pflegeheim hergestellt haben, verurteile der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Bundesrepublik Deutschland dazu, der Klägerin 10.000 € für den erlittenen immateriellen Schaden und 5.000 € für die entstandenen Kosten zu zahlen. Die deutsche Gesetzesregelung wurde dabei nicht für grundsätzlich falsch erklärt, sondern nur deren Anwendung.
Was bedeutet diese Entscheidung für die Praxis? Sowohl Unternehmen als auch Arbeitnehmer befinden sich weiterhin in einer ungewissen Situation. Zwar wurden mit dem Urteil die Rechte der Arbeitnehmer gestärkt, aber die Hürde, im Einzelfall zu beurteilen, ob die Gründe für eine Anzeige ausreichend sind und wann die innerbetriebliche Klärung als gescheitert angesehen werden kann, dürfte viele Arbeitnehmer abschrecken.
Für Arbeitgeber ist es naheliegend, ein internes Meldesystem für Fehlverhalten zu installieren, um einer Anzeige durch Arbeitnehmer vorzubeugen und unerwünschtes Verhalten im Unternehmen zu unterbinden.
Bei der Einführung eines Whistleblowing-Systems ergeben sich unterschiedliche Probleme, die der Betriebsrat im Blick haben sollte.
Unbestritten besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei Whistleblowing-Regelungen gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG, da diese das Verhalten der Arbeitnehmer unmittelbar betreffen. Das gilt auch für deutsche Betriebe und Unternehmen von Konzernen, die aufgrund der US-amerikanischen Gesetzgebung zur Einführung von Hinweisgebersystemen verpflichtet sind (Stichwort: Sarbanes-Oxley-Act).
Problematischer ist die Frage, was zum Inhalt einer Melderegelung gehören darf. Bekanntheit erfuhr diese Thematik unter anderem durch die Ethikrichtlinien bei Wal-Mart (vgl. LAG Düsseldorf vom 14.11.2005; dbr 4/2006, Seite 40). Mit seinen Ethikrichtlinien wollte der Konzern das Verhalten der Mitarbeiter bis in ihr Privatleben hinein bestimmen und eine Meldepflicht bei Verstößen gegen den Verhaltenskodex einführen. Das Landesarbeitsgericht untersagte diese Regelungswut mit dem Hinweis auf die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer.
Ein System von Verhaltens- und Melderegeln kann leicht den Anschein einer Überwachung der Mitarbeiter erwecken und damit erhebliche Auswirkungen auf das Arbeitsklima entfalten. Deshalb ist der Maßstab an die Meldeereignisse extrem hoch anzulegen. Es darf nur solches Verhalten aufgenommen werden, das einen schwerwiegenden Verstoß gegen Recht und Gesetz darstellt. Interne, vom Unternehmen aufgestellte Verhaltensregeln dürfen zum Schutz der Persönlichkeitsrechte nur in einem sehr begrenzten Umfang Inhalt von Melderegelungen werden. Die Liste von Fehlverhalten, das mittels des Systems gemeldet werden kann, ist in jedem Fall abschließend zu gestalten.
Wie ist es zu bewerten, wenn der Arbeitgeber eine Meldepflicht für Arbeitnehmer einführen will, wenn diese von Kollegen über ein Fehlverhalten Kenntnis erlangen? Neben den moralischen gibt es dagegen auch rechtliche Bedenken. Das Bundesarbeitsgericht verwies in einer Entscheidung aus dem Jahr 1965 (2 AZR 2/65) auf den sozialen Raum, den der Arbeitsplatz im Leben eines Menschen einnimmt. Dazu gehöre auch der Austausch im Kollegenkreis samt Informationen, die nur für diesen Kreis bestimmt sind. Wer an solchen Gesprächen teilnehme, unterwerfe sich der damit verbundenen Verschwiegenheit. Das Bundesarbeitsgericht sah daher in dem Verlangen, Kenntnisse aus solchen Gesprächsrunden an den Arbeitgeber zu melden, einen unzulässigen Eingriff in die Privatsphäre der Mitarbeiter.
Anders verhält es sich, wenn ein Arbeitnehmer im Rahmen seines Aufgabenbereichs von drohenden Schäden oder Straftaten gegen den Arbeitgeber erfährt. Dann kann es zu seinen arbeitsvertraglichen Nebenpflichten gehören, den Arbeitgeber davon in Kenntnis zu setzen. Von einer obligatorischen Meldepflicht in einer Whistleblowing-Regelung ist daher abzusehen. Stattdessen sollten freiwillige Regelungen eingeführt werden; dies fördert die Akzeptanz des Hinweisgebersystems. Die Absicht eines Whistleblowing-Systems sollte es sein, das Unternehmen vor Anzeigen und schwerwiegendem Fehlverhalten der Arbeitnehmer zu schützen, nicht die Mitarbeiter zu „gängeln“.
Ein Arbeitnehmer, der das Fehlverhalten von Kollegen bzw. Vorgesetzten an den Arbeitgeber meldet, setzt sich einem erheblichen Druck aus. Deshalb muss es das oberste Ziel eines internen Whistleblowing-Systems sein, den Informanten zu schützen. Das bedeutet, dass ein Hinweisgeber keine personellen Maßnahmen oder sonstige Sanktionen für die Meldung von Missständen befürchten muss. Die Möglichkeit, dass der Hinweisgeber anonym bleibt, erfüllt diesen Anspruch. Für eine wirksame Aufklärung eines Vorfalls ist es jedoch oft von Nöten, Nachfragen stellen zu können. Außerdem stehen anonyme Meldeverfahren im Verdacht, von Denunzianten missbraucht zu werden. Deshalb wird von der Arbeitgeberseite häufig die namentliche Erfassung des Hinweisgebers gewünscht. Das erfordert wiederum die absolut vertrauliche Behandlung von Meldungen und den Ausschluss personeller Maßnahmen gegen den Whistleblower. Die Bestimmungen des Bundesdatenschutzgesetzes sind zu beachten.
Bei der Nutzung technischer Einrichtungen wie Hotlines und Onlineportalen als Meldemöglichkeit ist darauf zu achten, die Meldedaten getrennt von anderen Personaldaten zu speichern. Hierzu sollte eine gesonderte Betriebsvereinbarung abgeschlossen werden.
Letztendlich bleibt zu klären, welche Rolle der Betriebsrat nach der Einführung des internen Meldesystems einnehmen soll und wie mit Hinweisen über Fehlverhalten aus der Belegschaft umgegangen wird.
Empfehlenswert ist es, eine Kommission aus Vertretern des Arbeitgebers und des Betriebsrats einzusetzen. Die Kommission kann Hinweisen nachgehen und interne Ermittlungen anstellen. Wenn der begründete Verdacht auf strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt, ist die Staatsanwaltschaft zu informieren. Für die Glaubwürdigkeit des Systems ist es unabdingbar, den Hinweisgeber über den Verlauf der Ermittlungen zu informieren.
Ein internes Whistleblowing-System kann den Ausgleich des Interesses der Arbeitnehmer, Missstände zu melden, und des Interesses der Arbeitgeber, ihren guten Ruf zu schützen, herbeiführen. Dabei ist wichtig, dass die Hinweismöglichkeit freiwillig ist, dass nur schwerwiegende Verstöße gegen Recht und Gesetz gemeldet werden können und dass der Hinweisgeber keine Sanktionen zu befürchten hat.
Dennoch kann eine Anzeige gegen den Arbeitgeber notwendig werden, wenn dieser einen gemeldeten Missstand nicht behebt. Der Arbeitnehmer kommt mit der vorrangigen Nutzung des internen Meldesystems der vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte geforderten Loyalitätspflicht nach. Die Verbesserung des Kündigungsschutzes von Whistleblowern erscheint nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht notwendig, aber sie wäre als klare Positionierung und zur Erweiterung der Rechtssicherheit wünschenswert. Denn nicht jedes Unternehmen wird ein Meldesystem einführen.
Quelle: Thorsten Reichmuth, M.A. Human Resource Management / Personalpolitik, Berater bei der BLC Business & Law Consulting GmbH in Hamburg, www.bl-con.de
Der Autor:
Thorsten Reichmuth arbeitet als Berater bei der BLC Business & Law Consulting GmbH. Nach seinem Studium der Sozialökonomie mit dem Schwerpunkt Arbeitsrecht absolvierte er ein Masterstudium in Personalmanagement. Seine Tätigkeitsfelder liegen in der betrieblichen Mitbestimmung, im Einsatz atypischer Beschäftigungsformen (Leiharbeit, Befristung, Teilzeit) und in der Gestaltung und Verhandlung von Betriebsvereinbarungen (Gehaltsmanagementsysteme, Personalinformationssysteme). Thorsten Reichmuth ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Personalmanagement an der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. |