25.04.2018 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans-Böckler-Stiftung.
Eine deutliche Erhöhung wäre auch wirtschaftspolitisch sinnvoll, konstatieren Forscher der Hans-Böckler-Stiftung in einer neuen Analyse. Außerdem sollte parallel das Tarifsystem gestärkt werden.
Seit Januar 2015 gilt der allgemeine gesetzliche Mindestlohn. Seine Höhe – aktuell 8,84 Euro pro Stunde – wird alle zwei Jahre von einer Kommission angepasst, die aus Gewerkschaftern, Arbeitgebervertretern und Wissenschaftlern besteht. Für diese Kommission haben Dr. Alexander Herzog-Stein und Dr. Andrew Watt vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) gemeinsam mit ihren Kollegen Dr. Malte Lübker, Dr. Toralf Pusch und Prof. Dr. Thorsten Schulten vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung eine Stellungnahme verfasst. Die Bilanz der Wissenschaftler: „Der Mindestlohn hat zu einem deutlichen Anstieg der Löhne im Niedriglohnsektor geführt, ohne dass es dabei in nennenswertem Ausmaß zu negativen wirtschaftlichen Konsequenzen für Wachstum und Beschäftigung gekommen wäre.“
Stattdessen habe die Lohnuntergrenze zu einer dynamischen Entwicklung der Arbeitnehmerverdienste beigetragen und so den privaten Konsum und die wirtschaftliche Entwicklung insgesamt beflügelt. Was die Höhe des Mindestlohns angeht, sehen die Experten noch Luft nach oben: Das aktuelle Niveau falle im europäischen Vergleich – relativ zum jeweiligen Medianlohn – eher gering aus. Der Mindestlohn sei noch nicht existenzsichernd, so dass der im Mindestlohngesetz geforderte „angemessene Mindestschutz“ nicht gegeben sei. Die Empfehlung: Temporär sollte der Mindestlohn stärker steigen als die Tariflöhne. Außerdem müsse der Staat mehr Personal einsetzen, um die Einhaltung des Mindestlohns effektiv durchzusetzen.
Geringverdiener haben der Stellungnahme zufolge deutlich von der Mindestlohneinführung profitiert: Wer zu den einkommensschwächsten fünf Prozent gehörte, kam 2014 auf einen Stundenlohn von maximal 6,83 Euro. Zwei Jahre später waren es 7,58 Euro oder elf Prozent mehr. Beim unteren Zehntel betrug der Zuwachs 8,7 Prozent, beim mittleren Lohn waren es nur fünf Prozent.
Frauen seien traditionell überdurchschnittlich von Niedriglöhnen betroffen, heißt es in dem Gutachten. Gut ein Viertel der weiblichen Beschäftigten in Deutschland habe 2016 weniger als zwei Drittel des mittleren Lohns erhalten – ein auch im EU-Vergleich hoher Wert. Unter den Männern erhielten 14,8 Prozent Niedriglöhne. Indem der Mindestlohn für Entgeltsteigerungen im unteren Bereich gesorgt hat, habe er zur Verringerung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern beigetragen. Der Gender Pay Gap sei im unteren Zehntel der Lohnpyramide zwischen 2014 und 2016 von 22 auf 15 Prozent zurückgegangen. Im mittleren Bereich habe sich dagegen wenig geändert.
Trotz der deutlichen Lohnsteigerungen bei Geringverdienern ist die Anzahl der Aufstocker kaum gesunken: 2017 waren der Studie zufolge nach wie vor mehr als 190.000 Beschäftigte trotz Vollzeitjob zusätzlich auf Hartz IV angewiesen. Nach Ansicht der Autoren dürften dafür unter anderem die rasant steigenden Mieten in vielen Städten verantwortlich sein. Nach ihren Berechnungen wären in 19 der 20 größten deutschen Städte Stundenlöhne oberhalb von 8,84 Euro notwendig, damit alleinlebende Beschäftigte mit der durchschnittlichen tariflichen Wochenarbeitszeit von 37,7 Stunden ohne zusätzliche Leistungen vom Amt über die Runden kommen können (siehe auch die Infografik; Link unten). Tatsächlich fällt die Höhe des deutschen Mindestlohns eher bescheiden aus: 2016 lag sie bei 46,7 Prozent des mittleren Lohns – was im internationalen Vergleich einem Platz im unteren Drittel entspricht. Um daran etwas zu ändern, müsste die Anpassungsrate zeitweilig das Wachstum der Tariflöhne überschreiten, so die Forscher.
Eine entsprechende Erhöhung wäre auch makroökonomisch sinnvoll: Um eine stabile gesamtwirtschaftliche Entwicklung zu gewährleisten, sollten die Nominallöhne mit einer Rate wachsen, die der Summe aus dem mittelfristigen Produktivitätswachstum und dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank (EZB) von zwei Prozent entspricht, erklären die Wissenschaftler. Hinter dieser Rate seien die Lohnsteigerungen in Deutschland lange Zeit weit zurückgeblieben, unter anderem aufgrund der „ausfransenden Lohnstruktur“ am unteren Rand. Insofern sei die Mindestlohneinführung ein wichtiger Beitrag zu einer makroökonomisch orientierten Lohnpolitik gewesen. Die Korrektur der vergangenen Fehlentwicklungen sei aber noch lange nicht abgeschlossen, was für eine kräftige Erhöhung spreche. Dass es entsprechenden Anpassungsbedarf gibt, zeige auch ein Blick auf die Lohnstückkosten, die 2017 nominal um 1,5 Prozent gestiegen sind – und damit gemessen am EZB-Inflationsziel zu schwach.
Dass der Mindestlohn durchaus geeignet ist, zur gesamtwirtschaftlichen Entwicklung beizutragen, darauf deuten der Analyse zufolge die privaten Konsumausgaben hin. Diese seien 2016 um 2,5 und 2017 um zwei Prozent gestiegen und hätten damit eine „beachtliche Dynamik“ an den Tag gelegt. Getragen worden sei diese Entwicklung von Zuwächsen bei der Beschäftigung und den Verdiensten. Simulationsrechnungen sprächen dafür, dass der Mindestlohn dabei eine signifikante Rolle gespielt hat.
Die von konservativen Ökonomen prophezeiten dramatischen Beschäftigungsverluste seien offensichtlich nicht eingetreten, so die Forscher. Im Gegenteil: Die Beschäftigung entwickle sich erfreulich dynamisch, die Zahl der Arbeitnehmer sei allein im vergangenen Jahr um 1,7 Prozent gestiegen. Dabei habe insbesondere die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zugenommen, während die Zahl der Minijobs zurückgegangen ist, was als „Korrektur einer früheren Fehlentwicklung“ zu betrachten sei.
Den vorteilhaften gesamtwirtschaftlichen Effekten entsprechen positive Erfahrungen auf betrieblicher Ebene: Laut der WSI-Betriebsrätebefragung 2016 hat der Mindestlohn in fast zwei Dritteln der Betriebe zur Verringerung der Lohnspreizung beigetragen, Absenkungen von Stundenlöhnen auf Mindestlohnniveau dagegen nur in absoluten Ausnahmefällen bewirkt. Auch von Personalabbau oder Zurückhaltung bei Einstellungen berichtet nur eine kleine Minderheit von acht Prozent der Befragten, während 20 Prozent einen Ausbau der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung beobachtet haben.
Tarifpolitisch hat der Mindestlohn der Stellungnahme zufolge zu neuer Dynamik und überdurchschnittlichen Entgeltsteigerungen in klassischen Niedriglohnbranchen geführt. Den Gewerkschaften sei es gelungen, in einer Reihe schwach organisierter Tarifbereiche nur noch in der Nachwirkung geltende Tarifverträge durch neue Abschlüsse zu ersetzen. Da vor allem die unteren Entgeltgruppen profitiert haben, habe die Lohnspreizung abgenommen. Im Gastgewerbe beispielsweise sei das Verhältnis zwischen dem höchsten und dem niedrigsten Tarifverdienst zwischen 2014 und 2017 um 7,2 Prozent gesunken. Insgesamt habe der Mindestlohn nicht zu einer Verdrängung von Tarifverträgen geführt, sondern die Verhandlungsposition der Gewerkschaften tendenziell gestärkt.
Der Mindestlohn allein reiche allerdings nicht aus, um das Tarifgefüge nachhaltig zu stabilisieren, warnen die Wissenschaftler. Der Trend zu rückläufiger Tarifbindung sei immer noch ungebrochen. Der Gesetzgeber sei in der Pflicht, diesem Trend entgegenzuwirken. Ein einfacher, aber wirkungsvoller Schritt wäre es, die Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen zu erleichtern. Positiver Nebeneffekt: In Betrieben mit Tarifvertrag und Betriebsrat wird so gut wie nie gegen das Mindestlohngesetz verstoßen, zeigen Studien des WSI.
Alexander Herzog-Stein u.a.: Der Mindestlohn: Bisherige Auswirkungen und zukünftige Anpassung (pdf), WSI Policy Brief Nr. 24, April 2018.