09.02.2022 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans Böckler Stiftung.
Das gilt sowohl für Erhöhungen des Rentenbeitrags als auch für höhere Steuern zur Unterstützung der Rentenkasse. Bei einer Erhöhung um einen Prozentpunkt sind Bruttoinlandsprodukt (BIP) und abhängige Beschäftigung nach fünf und nach zehn Jahren jeweils um 0,1 Prozentpunkte größer als ohne diese Erhöhung, auch langfristig wird der Effekt nicht negativ. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie, die das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung gefördert hat, auf Basis umfangreicher Modellrechnungen. Die Forscherinnen und Forscher schließen daraus: Der zu lösende Zielkonflikt (Trade-off) zwischen „finanzieller und sozialpolitischer Nachhaltigkeit im Rentensystem“, also zwischen Beiträgen und Leistungen, sei deutlich kleiner als angesichts des demografischen Wandels oft behauptet. Es gebe „durchaus keine Notwendigkeit zur Dramatisierung der Situation“, schreiben Prof. Dr. Camille Logeay von der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin, Dr. Rudolf Zwiener und Dr. Florian Blank, Rentenexperte des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.
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Zweifellos stellt der demografische Wandel eine Herausforderung für die Alterssicherung dar. Bei einer alternden Bevölkerung kommen weniger Beitragszahlende auf mehr Rentenbeziehende, wenn sich nicht gleichzeitig die Lage am Arbeitsmarkt weiter verbessert oder weitere Gruppen wie Selbständige oder neu eingestellte Beamte und Beamtinnen einbezogen werden. Der Gesetzgeber hat zur Sicherung der Rente bestimmte Regeln vorgegeben: Aktuell gilt die sogenannte doppelte Haltelinie. Bis 2025 soll der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen und das Rentenniveau nicht unter 48 Prozent sinken. Bis 2030 sollen die Marken von 22 Prozent beziehungsweise 43 Prozent halten. Diese Werte stellten gewissermaßen den rentenpolitischen Minimalkonsens dar, schreiben die Forschenden. Einige Wirtschaftswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen warnen vor steigenden Beitragsätzen, weil sie dadurch „ökonomische Verwerfungen“ befürchten. Höhere Beiträge seien nicht finanzierbar und würden der Volkswirtschaft schaden. Die Kritik bezieht sich meist nur auf die gesetzliche Rente, mögliche Probleme der privaten kapitalgedeckten Altersvorsorge, für die Beschäftigte eine Menge Geld bei derzeit schwachen Renditen zurücklegen sollen, sind dagegen kaum Thema. Eine erstaunliche Verengung, wie Logeay, Zwiener und Blank hervorheben.
Die Kritik an Beitragssatzerhöhungen in der Rentenversicherung baue zudem fast immer „auf denselben neoklassischen Modellannahmen“ auf, schreiben die Fachleute. Darin würden Sozialbeiträge hauptsächlich als Kostenfaktor betrachtet, deren Nachfrage- und Umverteilungseffekte aber übersehen oder unterschätzt. So werde in manchen Modellen weitgehend ignoriert, dass die zusätzlichen Einnahmen der Rentenversicherung nach einer Beitragsanhebung sofort weitergegeben werden und sich dadurch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage erhöht. Das Geld, das Rentnerinnen und Rentner erhalten, fließt zurück in den privaten Konsum, was wiederum das Wirtschaftswachstum steigert. Dagegen verfolgen sogar einige reine Renten- und Sozialversicherungsmodelle mit makroökonomischer Rückkopplung „die gleiche Modellierstrategie, die im Vorfeld der Mindestlohneinführung zu den Fehlprognosen geführt hat“ “, so Logeay, Zwiener und Blank. Damals war fälschlich der Wegfall von hunderttausenden Arbeitsplätzen vorhergesagt worden. In anderen Modellen werde der Kosteneffekt so modelliert, dass er den Nachfrageeffekt dominiert. Das makroökonomische Modell des IMK, das die Forschenden für ihre Berechnungen nutzen, berücksichtigt die Nachfragewirkung und weitere Faktoren dagegen stärker.
In vier Szenarien simulieren die Forschenden, wie sich neben dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) weitere Kennzahlen wie öffentlicher Schuldenstand, Haushaltseinkommen oder Lohnstückkosten entwickeln, wenn mehr Geld in die gesetzliche Alterssicherung fließt. Die Ergebnisse vergleichen sie mit einer Basissimulation ohne zusätzliche Aufwendungen.
Im ersten Szenario werden die makroökonomischen Effekte einer Beitragssatzerhöhung um einen Prozentpunkt simuliert – hälftig aufgeteilt auf Beschäftigte und Arbeitgeber. Die zusätzlichen Einnahmen werden gleich wieder für höhere Renten ausgegeben. In diesem Szenario liegen das reale BIP und die Beschäftigung nach zwei Jahren um knapp 0,1 Prozent über dem Niveau der Basissimulation. Dieser minimale positive Effekt wird bis zum fünften Jahr noch etwas stärker und verschwindet dann langfristig nach zehn Jahren wieder, ohne negativ zu werden.
Zustande kommt er im Wesentlichen durch einen stärkeren realen privaten Konsum. Letztlich überwiegen die deutlichen Zuwächse bei den Transfereinkommen der privaten Haushalte die geringen relativen Rückgänge bei den Nettolöhnen und den verteilten Gewinnen. In begrenztem Umfang findet eine Umverteilung hin zur steigenden Zahl der Rentnerinnen und Rentner statt. Dabei muss man beachten, dass die heutigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer später selbst von einem nicht abgesenkten Rentenniveau profitieren und deshalb keine oder weniger private Altersvorsorge betreiben müssen. Unter dem Strich steigt das reale verfügbare Einkommen der privaten Haushalte langfristig im Schnitt um 0,2 Prozent gegenüber der Basissimulation. Geschmälert werden die positiven Effekte durch eine etwas schlechtere Entwicklung bei den Exporten. Diese steigen wegen der höheren Lohnstückkosten langfristig um 0,2 Prozent weniger an. Die Verbraucherpreise sind nach fünf Jahren ebenfalls 0,2 Prozent höher.
Im zweiten Szenario wird eine – unrealistische – Beitragssatzerhöhung ohne gleichzeitig höhere Rentenzahlungen simuliert. Dabei schrumpfen das reale BIP und die Zahl der Beschäftigten um bis zu 0,5 Prozent gegenüber der Basissimulation, der reale private Konsum sogar um bis zu 0,9 Prozent. Trotzdem liegen die Verbraucherpreise in den ersten fünf Jahren bis zu 0,2 Prozent höher als in der Basissimulation, ähnlich stark wie im ersten Szenario. Erst anschließend geht die Teuerung leicht zurück. Der Wirtschaft schadet der Entzug an Kaufkraft, weil die Beitragssatzerhöhung nicht in die Binnennachfrage zurückfließt. Letztlich leiden darunter alle – Beschäftigte, Unternehmen und Rentenbeziehende. „Diese Ergebnisse sind insofern bedeutsam, weil einige Rentenmodelle implizit ein solches realitätsfernes Simulationsdesign unterstellen, wenn sie die Effekte von höheren Beitragssätzen simulieren“, schreiben Logeay, Zwiener und Blank.
Im dritten Szenario werden die direkten Steuern – zum Beispiel Einkommenssteuer oder Körperschaftssteuer – zur Finanzierung der zusätzlichen Rentenzahlungen erhöht, wobei die gleichen zusätzlichen Einnahmen und die gleichen zusätzlichen Rentenausgaben wie im ersten Szenario unterstellt werden. Die wiederum leicht positiven Wachstums- und Beschäftigungseffekte fallen sehr ähnlich aus wie in Szenario eins. Unterschiede werden aber deutlich bei der Preisentwicklung und den Komponenten des BIP. So gibt es hier keine Erhöhung der Verbraucherpreise und der Löhne und somit auch keine negativen Effekte bei den realen Exporten. Gleichzeitig fällt der positive Effekt beim privaten Konsum etwas schwächer aus. Die Lohnquote steigt nicht wie im ersten Szenario, sondern bleibt in etwa konstant. Die Unterschiede sind allerdings nicht groß.
Im vierten Szenario werden die Verbrauchssteuern erhöht und zur Finanzierung der zusätzlichen Rentenzahlungen verwendet. Die Effekte auf der Einnahmen- und Ausgabenseite fallen genauso stark aus wie im ersten und dritten Szenario. Auch die Lohnstückkosten und damit die Exporte entwickeln sich mit höheren Verbrauchssteuern langfristig wie nach einer Beitragssatzerhöhung. Allerdings würden im vierten Szenario die Verbraucherpreise stärker steigen. Gleichzeitig würden zwar auch die Nominallöhne zulegen, dieser Anstieg wäre aber nicht hoch genug, um einen leichten Rückgang der Reallöhne – im Vergleich zur Basissimulation – zu verhindern.
Fazit der Forschenden: Auch höhere Renten seien finanzierbar, ohne negative Effekte auf Wachstum und Beschäftigung. Falls Rentenzahlungen stärker über höhere Steuern finanziert werden, hätte das zudem deutliche Verteilungseffekte, vor allem bei einer Erhöhung der progressiven Einkommenssteuern. In dem Fall würden alle Steuerpflichtigen einbezogen, auch die bisher nur ungenügend an der Finanzierung sogenannter „versicherungsfremder Leistungen“ beteiligten Gruppen wie Selbstständige, Beamte und Beamtinnen und Personen mit sehr hohem Einkommen. Sie würden stärker belastet, während die Belastung von Beschäftigten mit niedrigen beziehungsweise mittleren Einkommen – relativ betrachtet – sinken würde. Dies sei auch erwünscht, schließlich entspreche es „dem Prinzip einer gerechteren Abgabenstruktur im Sinne der Leistungsfähigkeit“, schreiben die Forschenden. Die Beitragsbelastung der/des Einzelnen für die Sozialversicherung würde begrenzt, was die Akzeptanz von in Zukunft steigenden Rentenausgaben erhöhen und die Lohnstückkosten nicht direkt beeinflussen würde. „Will man also in Zukunft Beitragssatzanhebungen zumindest begrenzen, dann stehen – vor allem – Steuern als Finanzierungsalternative zur Verfügung“, so das Fazit.
Camille Logeay, Rudolf Zwiener, Florian Blank: Nachhaltigkeit in der Rentenversicherung in Zeiten des demografischen Wandels? Analyse zu den makroökonomischen Effekten einer Beitragssatzerhöhung in der Rentenversicherung, IMK Study Nr. 76, Februar 2022.
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