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Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

12.07.2011  — Online-Redaktion Verlag Dashöfer.  Quelle: Bundesverfassungsgericht.

Ein Unternehmen hatte geklagt, weil es nicht dem passenden Wirtschaftszweig zugeordnet worden war, um eine Investitionszulage zu erhalten.

Das Investitionszulagengesetz regelt die Gewährung staatlicher Zuschüsse für förderungswürdig erachtete betriebliche Anschaffungen. Insbesondere das verarbeitende Gewerbe wird bzw. wurde bereits in den Vorgängerregelungen des Berlinhilfegesetzes von 1968 und in den nachfolgenden Investitionszulagengesetzen bei der Gewährung von Investitionszulagen berücksichtigt. Auch die hier maßgeblichen Vorschriften des Investitionszulagengesetzes 1999 sehen unter bestimmten Voraussetzungen eine Begünstigung betrieblicher Investitionen des verarbeitenden Gewerbes vor. Weder das Berlinhilfegesetz noch die nachfolgenden Investitionszulagengesetze bis zum Jahr 2008 definieren den Begriff des verarbeitenden Gewerbes oder bestimmen ihn in sonstiger Weise näher. Es entspricht jedoch der gefestigten Rechtsprechung der Finanzgerichte, dass die Zuordnung der Tätigkeit eines Betriebs zum verarbeitenden Gewerbe in aller Regel nach der von den Statistikbehörden erstellten Klassifikation der Wirtschaftszweige in der jeweiligen gültigen Fassung zu bestimmen ist. Erst mit dem Investitionszulagengesetz 2010 vom 7. Dezember 2008 wurde erstmals ausdrücklich gesetzlich festgeschrieben, dass die Zuordnung eines Betriebs zu dem verarbeitenden Gewerbe nach der von dem Statistischen Bundesamt herausgegebenen Klassifikation der Wirtschaftszweige vorzunehmen ist.

Die Beschwerdeführerin ist ein Unternehmen mit Sitz in Sachsen und bearbeitet Altasphalte und Altbeton, wobei sie mit ihren Maschinen das von ihren Auftraggebern bereit gelegte Material zerkleinert. Für die Anschaffung diverser Fahrzeuge und Maschinen beantragte sie 2005 beim Finanzamt die Gewährung einer Investitionszulage. Auf ihre Anfrage teilte das Statistische Bundesamt mit näherer Begründung mit, dass ihr Betrieb nicht dem verarbeitenden Gewerbe zuzuordnen sei, woraufhin das Finanzamt die Gewährung einer Investitionszulage ablehnte. Das Landesfinanzgericht stellte dagegen auf die Klage der Beschwerdeführerin unter Aufhebung des Finanzamtsbescheides fest, dass die Tätigkeit der Beschwerdeführerin in Abweichung von der Einordnung des Statistischen Bundesamts dem verarbeitenden Gewerbe unterfalle; dessen Einstufung sei offenkundig unzutreffend.

Der Bundesfinanzhof hob das Urteil auf. Der Betrieb der Beschwerdeführerin sei nicht dem verarbeitenden Gewerbe zuzuordnen. Zur Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs des verarbeitenden Gewerbes seien mangels gesetzlicher Begriffsbestimmung die vom Statistischen Bundesamt herausgegebenen Verzeichnisse der Wirtschaftszweige heranzuziehen. Halte das Statistische Landes- oder Bundesamt danach die Einordnung eines Betriebs in einen bestimmten Wirtschaftszweig für zutreffend, so sei diese Zuordnung nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs von den Finanzämtern in aller Regel bei der Entscheidung über die Gewährung der Investitionszulage zu übernehmen, soweit sie nicht zu einem offensichtlich falschen Ergebnis führe. Letzteres sei hier nicht der Fall.

Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat das Urteil des Bundesfinanzhofs aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an ihn zurückverwiesen. Das Urteil verletzt die Beschwerdeführerin dadurch in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, dass es die Versagung der begehrten Investitionszulage durch das Finanzamt nur eingeschränkt auf ihre Rechtmäßigkeit überprüft.

Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zugrunde:

Aus dem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz folgt ein Anspruch des Bürgers auf eine möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle des angegriffenen Hoheitsaktes. Die Gerichte sind verpflichtet, die angefochtenen Verwaltungsakte in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht vollständig nachzuprüfen. Dies gilt auch, wenn die angefochtene Verwaltungsentscheidung auf der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe beruht. Deren Konkretisierung ist grundsätzlich Sache der Gerichte.

Der Bundesfinanzhof schränkt in seinem Urteil die gerichtliche Kontrolle der Entscheidung des Finanzamts über die Ablehnung der Investitionszulage in zweifacher Hinsicht ein:

1. Zum einen sieht sich der Bundesfinanzhof bei der Zuordnung des Unternehmens der Beschwerdeführerin zum verarbeitenden Gewerbe grundsätzlich an die Klassifikation der Wirtschaftszweige gebunden, die weder Gesetz noch Verordnung ist, sondern allein für statistische Zwecke durch eine Verwaltungsbehörde geschaffen wurde. Dies führt jedoch nicht zu einer Verletzung der Rechtsschutzgarantie. Es beeinträchtigt weder die Gesetzesbindung der Gerichte noch den Anspruch des Einzelnen auf wirksame gerichtliche Kontrolle, wenn die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe durch gesetzliche Verweisung auf bestimmte Verwaltungsvorschriften oder sonstige untergesetzliche Regelwerke erfolgt oder wenn die konkretisierende Heranziehung solcher Vorschriften oder Regelwerke in vergleichbarer Weise auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage beruht.

So verhält es sich hier. Die Anerkennung der prinzipiellen Verbindlichkeit der Klassifikation der Wirtschaftszweige für die Zuordnung eines Betriebs zum verarbeitenden Gewerbe kann sich bezogen auf die Investitionszulagengewährung auf eine tragfähige gesetzliche Grundlage stützen. Denn in den Gesetzesmaterialien zum Investitionszulagengesetz 1999 wie auch zu den Vorgängerregelungen finden sich eindeutige Belege dafür, dass der Gesetzgeber bei Erlass des jeweiligen Investitionszulagengesetzes von der verbindlichen Anwendung der Klassifikation der Wirtschaftszweige bei der Entscheidung über die Gewährung einer Investitionszulage im Rahmen der Zuordnung eines Betriebs zum verarbeitenden Gewerbe ausging. Die Anknüpfung an das Statistikrecht ist auch nicht grundsätzlich sachwidrig. Die Klassifikationen des Statistikrechts gewährleisten allen am Investitionszulageverfahren Beteiligten ein weitaus höheres Maß an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit als es ein vom Statistikrecht abgelöstes, eigenes Verständnis des Gesetzesbegriffs „verarbeitendes Gewerbe“ vermöchte. Zudem bleibt nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs die Einteilung der betrieblichen Tätigkeiten nach der Klassifikation der Wirtschaftszweige einer Evidenzprüfung daraufhin unterworfen, ob sie in Blick auf das Investitionszulagenrecht zu einem offensichtlich falschen Ergebnis führt.

2. Das Urteil des Bundesfinanzhofs verletzt jedoch die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, soweit es zum anderen die Stellungnahme des Statistischen Bundesamts, wonach die Tätigkeit der Beschwerdeführerin nicht zu dem verarbeitenden Gewerbe zählt, als grundsätzlich verbindlich erachtet und nur auf offensichtliche Fehler prüft. Dies schmälert den individuellen Rechtsschutz, weil die gebotene vollständige Prüfung der Verwaltungsentscheidung, hier der Entscheidung des Finanzamts, unterbleibt und stattdessen nur noch eine bloße Offensichtlichkeitskontrolle erfolgt. Damit wird dem Statistischen Bundesamt ein partielles behördliches Letztentscheidungsrecht eingeräumt.

Von Gerichten nicht oder nur eingeschränkt überprüfbare Letztentscheidungsbefugnisse über Rechte des Einzelnen dürfen der vollziehenden Gewalt nur aufgrund eines Gesetzes eingeräumt werden. Dabei hat auch der Gesetzgeber, wenn er die gerichtliche Kontrolle zurücknehmen will, zu berücksichtigen, dass die letztverbindliche Normauslegung und die Kontrolle der Rechtsanwendung im Einzelfall grundsätzlich den Gerichten vorbehalten ist. Deren durch Art. 19 Abs. 4 garantierte Effektivität darf auch der Gesetzgeber nicht durch zu zahlreiche oder weitgreifende Beurteilungsspielräume für ganze Sachbereiche oder gar Rechtsgebiete aushebeln. Die Freistellung der Rechtsanwendung von gerichtlicher Kontrolle bedarf stets eines hinreichend gewichtigen, am Grundsatz eines wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteten Sachgrunds.

Die auf eine Offensichtlichkeitskontrolle beschränkte Prüfung des Bundesfinanzhofs ist mit der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG nicht vereinbar, weil es bereits an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage für diese Beschränkung fehlt. Weder im Investitionszulagengesetz 1999 noch in den Gesetzesmaterialien finden sich tragfähige Hinweise auf eine Finanzbehörden und Finanzgerichte bindende Einbeziehung der Statistikbehörden in die Investitionszulagenentscheidung oder auch nur auf ein insoweit dem Finanzamt selbst einzuräumendes Letztentscheidungsrecht. Die unzureichende gerichtliche Prüfung der Zuordnungsentscheidung des Statistischen Bundesamts und nachfolgend des Finanzamts durch den Bundesfinanzhof wird auch nicht durch Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Stellungnahme des Statistischen Bundesamts selbst kompensiert. Durch die Garantie effektiven Rechtsschutzes werden zwar Verfahrensstufungen mit gespaltener Rechtsschutzgewährung nicht ausgeschlossen. Die Stellungnahme des Statistischen Bundesamts ist jedoch weder ein selbständig angreifbarer Grundlagenbescheid in einem gestuften Verfahren noch musste sich die Beschwerdeführerin auf einen möglicherweise dagegen eröffneten verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz verweisen lassen, weil die fachliche Stellungnahme der Statistikbehörde nicht gesetzlich in das Verfahren über die Gewährung einer Investitionszulage einbezogen ist.

Quelle: Bundesverfassungsgericht
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