26.02.2020 — Moira Frank. Quelle: Verlag Dashöfer GmbH.
Eine Kindheit ohne Internet? Das kennen Digital Natives, von erziehungsbedingten Ausnahmen abgesehen, nicht mehr. Entsprechend hoch ist ihre Affinität für Digitales und Technik. Schon vor 15 Jahren mussten sich viele Lehrer*innen von Ihren Schüler*innen Fernseher anschalten und mit Beamer-Anschlüssen helfen lassen. Heute können Lehrkräfte ohne eigene Begeisterung für Digitales erst recht nicht mithalten. KI ist für beide Gruppen, obwohl Siri, Alexa & Co. immer beliebter werden, meist das vielbeschworene „Neuland“. Um Schulen und andere Bildungseinrichtungen mit dem Thema vertraut zu machen, wurde im Rahmen des Wissenschaftsjahrs 2019, das unter dem Motto Künstliche Intelligenz (KI) stand, ein Brettspiel an Schulen vergeben. „Mensch, Maschine!“ zeigt Kindern und Jugendlichen analog, wie Maschinen rasant dazulernen. Das gemeinsame Projekt des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, der Universität Paderborn und der Deutsche Telekom Stiftung wurde an über 2000 Schulen gespielt, online stehen weiterhin Lehr- und Arbeitsmaterialien zur Verfügung.
Wer hat sich nicht bei einem schwierigen Textabschnitt schon einmal eine einfachere Erklärung gewünscht? Zumindest in Physik müssen Schüler*innen zukünftig womöglich nicht mehr zum Handy greifen, um online nachzulesen. „Hypermind“ ist ein antizipierendes Physikschulbuch, das derzeit an der Technischen Universität Kaiserslautern entwickelt und unter anderem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. Es soll dynamisch-adaptiv ein individuell auf seine Leser*innen eingestelltes Lernen ermöglichen – und zwar mittels sogenannter Eye-Tracking-Technologie, bei der erkannt wird, wie lang das Auge auf einer bestimmten Stelle verharrt. Braucht ein*e Schüler*in für einen Absatz zu lang oder liest ihn wiederholt, soll das Buch automatisch Zusatzmaterial zum besseren Verständnis anbieten. Überflieger*innen sollen mit zusätzlichen Aufgaben gefördert werden. Die anfallenden Daten kann wiederum die Lehrkraft nutzen und entsprechend den Unterrichtsinhalt anpassen, statt erst am unterdurchschnittlichen Testergebnis zu erkennen, dass die Klasse hinterherhängt.
In einigen chinesischen Schulen ist die KI schon viel weiter: Im Unterricht kann die hier bereits viel eingesetzte Gesichtserkennung zum Beispiel verfolgen, wer unaufmerksam oder schläfrig ist oder mit den Nachbar*innen tuschelt. So können nicht nur Schüler*innen zurechtgewiesen werden, auch Lehrer*innen können sich der Klasse anpassen. Am Haupttor wird ebenfalls Gesichtserkennung genutzt, die beim Kommen und Gehen vermerkt, wer sich verspätet. Auch die mittäglichen Essensbestellungen der Schüler*innen werden über KI abgewickelt. Eine Mensakarte ist nicht länger nötig. Ein Ernährungsbericht geht regelmäßig an die Eltern.
Obwohl die chinesische Regierung das Modell unterstützt und den Einsatz von KI landesweit vorantreibt, gibt es immer wieder auch Kritik. Viele Menschen sehen darin keine Erleichterung, sondern zusätzliche Überwachung schon von Kindern und Jugendlichen.
Wo von KI gesprochen wird, da muss auch von Überwachung, Datenschutz und Privatsphäre gesprochen werden. Denn ob Eye-Tracking-Technologie oder Aufmerksamkeits-Tracking via Gesichtserkennung: Beides ist eine Form der Überwachung. Beide Techniken liefern den Beobachter*innen Daten von Schüler*innen – und beide bedeuten, zumindest im Klassenzimmer, die Abkehr vom selbstbestimmten Lesen und Lernen, zu dem auch gehört, hinterherzuhängen oder einmal gar nicht zuzuhören. Der Druck auf Kinder und Jugendliche, gerade diejenigen, die mit Lese- und Lernschwächen kämpfen, steigt, wenn eine „allwissende“ Künstliche Intelligenz zuschaut statt lediglich ein*e Lehrer*in, enorm. Und was passiert eigentlich, wenn die „unfehlbare“ KI Fehler macht?
Die Sorge um den Datenschutz ist zwar in all diesen Fällen begründet, doch darf dabei nicht aus den Augen gelassen werden, wie tief wir schon im Datensumpf stecken, selbst wenn wir die Sprachassistenz auf unserem Handy ausgeschaltet haben. Die Kameraüberwachung in Deutschland könnte trotz lauter Kritik in Zukunft um eine automatische Gesichtserkennungssoftware erweitert werden – obwohl Innenminister Seehofer kürzlich von entsprechenden Plänen abrückte, habe laut einem Sprecher „kein Umdenken des Ministers stattgefunden“. Erst kürzlich haben Berichte über eine riesige Datenbank zur Gesichtserkennung in den USA zu Besorgnis geführt. Auch nicht zu vergessen: Wenn KI im Spiel ist, wird eher ums Datensammeln gesorgt, als wenn Daten analog oder digital, aber von einer echten Person gesammelt werden.
In Deutschland ist noch nicht einmal die Digitalisierung in allen Schulen und Universitäten angekommen. Der konsequente Einsatz von Künstlicher Intelligenz wie etwa adaptiven Lehrbüchern, die sich dem individuellen Lerntempo anpassen, ist noch Jahre entfernt. Da fällt es umso leichter, die Situation in China – häufig zurecht – als dystopisch und gefährlich darzustellen. Schließlich ist man hier noch oft nicht sicher, wie der Beamer angeht und wo im Video die Untertitel sind. Aber viele Eltern wären sicher auch in Deutschland froh über „verlässliche“ Auswertungen des kindlichen Lernverhaltens oder würden den regelmäßigen Ernährungsbericht der Schulkantine in Anspruch nehmen, um Zucker- und Fettkonsum zu überwachen. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen KI und Digitalisierung. Letzteres ist auch in Deutschland denkbar. Ein möglicher Gegen- oder Parallelentwurf: Wer mit Kindern und Jugendlichen redet, kann genau wie eine Kamera auf Leistungsdefizite und Müdigkeit im Unterricht aufmerksam werden und menschlicher reagieren als das allsehende Auge.
Eins ist allerdings sicher: Robo-Lehrer*innen wird es so bald nicht geben. Dafür ist die Technik noch lang nicht weit genug – und Menschen sind Robotern hier doch noch in vielen sozialen Kompetenzen überlegen. In der Zukunft ist natürlich alles möglich. Doch erstmal muss das mit dem digitalen Vertretungsplan bei Unterrichtsausfällen klappen. Die KI kann warten.
Quellen und Hintergründe:
Bild: bongkarn thanyakij (Pexels, Pexels Lizenz)
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