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Anreiz für "Drehtüreffekte"

18.06.2014  — Online-Redaktion Verlag Dashöfer.  Quelle: Hans-Böckler-Stiftung.

Mindestlohn-Ausnahmen sind schlecht für Arbeitsmarktchancen von Langzeitarbeitslosen und das Tarifsystem, besagt eine Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts in der Hans-Böckler-Stiftung.

Langzeitarbeitslose sollen sechs Monate lang kein Anrecht auf den Mindestlohn haben. Das kann ihre Arbeitsmarktchancen verschlechtern und das Tarifsystem schwächen. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Untersuchung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung.

Nicht einmal 5,70 Euro brutto pro Stunde – so wenig sollen Langzeitarbeitslose im ersten halben Jahr nach einer Neueinstellung auch weiterhin verdienen dürfen. Jedenfalls, wenn die Ausnahmeregelung im geplanten Mindestlohngesetz der Bundesregierung umgesetzt wird und damit nur die Sittenwidrigkeit als Lohnuntergrenze für diese Personengruppe wirkt, analysieren die WSI-Forscher Dr. Reinhard Bispinck, Dr. Thorsten Schulten und Marc Amlinger. Es gebe wenig Hinweise darauf, dass diese Sonderregel, die es nach der WSI-Untersuchung in keinem anderen EU-Land mit Mindestlohn gibt, die Arbeitsmarktchancen von Langzeitarbeitslosen verbessere. Vielmehr erhielten Unternehmen „starke Anreize, nach einem Zeitraum von sechs Monaten den vormaligen Langzeitarbeitslosen wieder zu entlassen und durch einen neuen `günstigeren´ Langzeitarbeitslosen zu ersetzen“. Im Endeffekt könnte die Ausnahmeklausel das glatte Gegenteil der eigentlich beabsichtigten Wirkung erzeugen: Es „drohen umfassende Drehtüreffekte, die die Chancen von Langzeitarbeitslosen auf einen dauerhaften Wiedereinstieg weiter verschlechtern und lediglich kurzfristige und instabile Beschäftigungsverhältnisse fördern.“

Um abzuschätzen, wie sich die Ausnahme vom Mindestlohn auswirken dürfte, haben die drei Forscher die aktuelle Situation von Langzeitarbeitslosen auf dem Arbeitsmarkt untersucht. Nach einem deutlichen Rückgang zwischen 2008 und 2011 stagniert die Zahl der Menschen, die länger als ein Jahr ohne Job sind, bei gut einer Million. Im Jahresdurchschnitt 2013 waren es 1,05 Millionen. Anders als während der 2000er Jahre ist der Anteil der Langzeitarbeitslosen in Deutschland nicht mehr höher als in anderen mittel- und nordeuropäischen Ländern, halten die Wissenschaftler fest. Gleichwohl sind ihre Chancen, eine Beschäftigung zu finden, deutlich geringer als bei Menschen, die nur kurz ohne Job waren. Nur 16 Prozent aller Langzeitarbeitslosen finden derzeit pro Jahr den Weg in den ersten Arbeitsmarkt. Und nach einem Jahr sind von den Wiedereinsteigern nur noch rund 50 Prozent beschäftigt. „Diese Instabilität in einer Situation ohne Mindestlohn zeigt, dass die Lohnhöhe nicht die entscheidende Beschäftigungshürde für Langzeitarbeitslose sein kann“, sagt Forscher Schulten.

Wer ist besonders betroffen?

Überdurchschnittlich häufig von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind Arbeitnehmer mit gesundheitlichen Problemen, Geringqualifizierte, Ältere und Menschen mit Migrationshintergrund. „Sozialintegrative Leistungen bei sozialen, psychischen und gesundheitlichen Problemen sind für diese Personengruppe daher besonders wichtig“, schreiben die Forscher. Die Arbeitsverwaltung habe in dieser Hinsicht Fortschritte gemacht, beispielsweise durch die Kombination von besserer Begleitung und Eingliederungszuschüssen. Diese Zuschüsse können Arbeitgeber für maximal ein Jahr erhalten, wenn sie einen zuvor Langzeitarbeitslosen beschäftigen. Die Unternehmen müssen sich verpflichten, den Neueingestellten mindestens doppelt so lange zu beschäftigen, wie die Förderung lief.

„Unter diesen Voraussetzungen und mit einer intensiven Betreuung durch die zuständigen Vermittlungsfachkräfte werden Eingliederungszuschüsse in ihrer Wirkung überwiegend positiv beurteilt“, konstatieren die WSI-Experten mit Verweis auf die einschlägige Forschung. Denn so zielten sie auf eine stabile Reintegration von Langzeitarbeitslosen ins Erwerbsleben. Die Forscher halten es nun für wahrscheinlich, dass die pauschale zeitweilige Ausnahme vom Mindestlohn das Interesse von Unternehmen an einer längerfristigen, geförderten Beschäftigung von Langzeitarbeitslosen reduzieren könnte. Zum Nachteil von Menschen ohne Job, die nach sechs Monaten schlagartig unattraktiv für ihre Arbeitgeber werden und dann wieder in der „Drehtür“ landen könnten.

Auch in eine andere Richtung drohen durch die Ausnahmepläne nach der WSI-Analyse „widersinnige Effekte“: Sie machen es für Unternehmen unattraktiver, nach Tarifvertrag zu bezahlen. Denn tarifungebundene Firmen könnten den Mindestlohn bei Langzeitarbeitslosen bis zur Grenze der Sittenwidrigkeit unterschreiten. Diese zieht die Rechtsprechung erst, wenn ein Drittel weniger als das ortsübliche Entgelt gezahlt wird. Das entspräche bei 8,50 Euro allgemeinem Mindestlohn einem Lohn von lediglich 5,67 Euro pro Stunde. Dagegen schützen die meisten Tarifverträge auch gering qualifizierte Beschäftigte vor Niedriglöhnen: Etwa 90 Prozent der Tarifgruppen liegen nach Daten des WSI-Tarifarchivs oberhalb von 8,50 Euro.

Die potenzielle Schwächung des Tarifsystems sei „ein mehr als problematischer Effekt eines Gesetzes, das explizit die `Stärkung der Tarifautonomie´ zum Ziel hat“, konstatieren Bispinck, Schulten und Amlinger. Der Gesetzentwurf enthalte zwar eine Selbstverpflichtung, die Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose bereits nach zwei Jahren zu evaluieren – was die Wissenschaftler als Indiz dafür werten, dass die Bundesregierung selber unsicher über die Folgen sei. Angesichts der „erheblichen Risiken“ empfehlen sie, aber lieber zunächst auf die Ausnahmeregelung zu verzichten und stattdessen zunächst genau zu untersuchen, wie sich die Situation der Langzeitarbeitslosen nach Einführung des Mindestlohns entwickelt.


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