Die Mütter des Grundgesetzes

30.05.2024  — Samira Sieverdingbeck.  Quelle: Verlag Dashöfer GmbH.

65 Personen erarbeiteten das Grundgesetz vor 75 Jahren im Parlamentarischen Rat. 61 von ihnen waren Männer, vier waren Frauen. Friederike Nadig, Elisabeth Selbert, Helene Weber und Helene Wessel werden heute die „Mütter des Grundgesetzes“ genannt. Wer waren diese Frauen und wie beeinflussten sie das bis heute geltende Grundgesetz?

Elisabeth Selbert

Elisabeth Selbert wurde 1896 in Kassel geboren. Ihr Wunsch, Abitur zu machen und Lehrerin zu werden, konnte aufgrund finanzieller Einschränkungen der Familie nicht erfüllt werden. Stattdessen arbeitete sie zunächst als Auslandskorrespondentin für eine Import-Export-Firma und später im Telegraphenamt. 1918 trat sie der SPD bei und begann, sich politisch zu engagieren. Sie schrieb Artikel und redete öffentlich über die politische Verantwortung der Frauen, sich politisch zu informieren und zu engagieren.

1925 holte Selbert ihr Abitur nach und studierte anschließend Jura in Marburg und Göttingen. 1930 promovierte sie und trotz der Versuche der Nationalsozialisten, Frauen von der Rechtsanwaltschaft auszuschließen, gelang es ihr, als Rechtsanwältin zugelassen zu werden. 1934 übernahm sie eine Anwaltskanzlei in Kassel.

Selberts größter Einfluss auf das Grundgesetz lag in der Formulierung des Gleichheitsgrundsatzes. Sie setzte sich entschlossen dafür ein, dass „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ in das Grundgesetz aufgenommen wurde. Trotz anfänglicher Ablehnung, sowohl durch die Mehrheit der Männer im Ausschuss als auch durch ihre weiblichen Mitstreiterinnen, initiierte sie öffentliche Proteste mit Unterstützung von Frauenrechtsorganisationen und Abgeordneten. Gemeinsam mit Friederike Nadig gelang es ihr schließlich, auch Helene Weber und Helene Wessel zu überzeugen. 1949 wurde der Gleichstellungsgrundsatz angenommen, was zur Folge hatte, dass zahlreiche Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuchs geändert werden mussten. Die Verabschiedung des Gleichberechtigungsgesetzes dauerte jedoch noch acht Jahre.

Ein weiteres, wichtiges Anliegen Selberts war die Schaffung eines unabhängigen Rechtswesens, insbesondere eines unabhängigen Richteramtes und eines obersten Gerichts zur Normenkontrolle aller politischen Gremien – das heutige Bundesverfassungsgericht.

Trotz ihrer großen Errungenschaften blieben ihre Kämpfe um Gleichstellung nicht ohne Folgen. Schließlich kam es zum Bruch mit der SPD. Sie zog sich aus der aktiven Politik zurück und arbeitete wieder als Rechtsanwältin. Elisabeth Selbert verstarb 1986 in Kassel.

Friedrike Nadig

Friederike Nadig wurde 1897 in Herford geboren. Als Tochter einer Näherin und eines Tischlers, der selbst SPD-Mitglied und später Teil des Preußischen Landtags war, war sie früh interessiert, sich sozial zu engagieren. Schon 1913 trat sie der Arbeiterjugend bei und 1916 folgte der Beitritt zur SPD. Nach der Bürgerschule absolvierte sie eine Ausbildung als Verkäuferin und besuchte nach dem Ersten Weltkrieg die Soziale Frauenschule in Berlin. 1922 schloss sie ihr Examen zur Wohlfahrtspflegerin ab und arbeitete anschließend als Fürsorgerin in Bielefeld. Wegen ihrer sozialistischen Überzeugungen erhielt sie 1933 nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ein Berufsverbot.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte Nadig ihre Karriere fort und wurde Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt in Ostwestfalen-Lippe. Gleichzeitig beteiligte sie sich am Wiederaufbau der SPD.

Im Grundsatzausschuss kämpfte sie energisch für die Aufnahme des Gleichberechtigungsartikels ins Grundgesetz. Obwohl sie die gesetzliche Gleichstellung von Männern und Frauen erreichte, scheiterten ihre Bemühungen um Lohngleichheit und die rechtliche Gleichstellung unehelicher Kinder.

Bis 1966 blieb Friederike Nadig Geschäftsführerin der Arbeiterwohlfahrt. 1970 verstarb sie schließlich in Bad Oeynhausen.

Helene Weber

Helene Weber wurde 1881 in Elberfeld geboren und starb 1962 in Bonn. Bereits in der Weimarer Republik war sie als Abgeordnete der verfassungsgebenden Nationalversammlung tätig. Sie studierte Romanistik und Volkswirtschaftslehre und arbeitete als Lehrerin sowie als Leiterin der Sozialen Frauenschule, bevor sie Abgeordnete des Preußischen Landtags und des Reichstags wurde. Als erste Ministerialrätin der Weimarer Republik wurde sie 1933 von den Nationalsozialisten aufgrund „politischer Unzuverlässigkeit“ entlassen.

Im Parlamentarischen Rat war Weber aufgrund der Intervention der Frauenarbeitsgemeinschaft der CDU vertreten, die sicherstellen wollte, dass mindestens eine Frau in den Beratungen anwesend wäre. Webers politisches Engagement konzentrierte sich auf den Schutz von Ehe und Familie sowie das Elternrecht. Sie trat als engagierte Katholikin auf und setzte sich ebenfalls für die verfassungsrechtliche Verankerung der Lohngleichheit von Frauen und Männern ein, jedoch erfolglos.

In Bezug auf die Gleichstellung von Männern und Frauen sprach sich Weber, wie die meisten ihrer männlichen Kollegen, zunächst für die Formulierung der Weimarer Verfassung aus: „Männer und Frauen haben dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten.“ Schließlich ließ sie sich jedoch überzeugen und plädierte dann ebenfalls für „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“.

Darüber hinaus war es ihr ein Anliegen, die „Eigenart und die Würde der Frau“ gesondert zu berücksichtigen. Gemeinsam mit Helene Wessel kämpfte sie für Artikel 6 Absatz 4 des Grundgesetzes: „Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.

Von 1949 bis zu ihrem Tod 1962 gehörte Helene Weber dem Bundestag an.

Helene Wessel

Helene Wessel wurde 1898 in Dortmund geboren und starb 1969 in Bonn. Sie absolvierte eine kaufmännische Lehre und war von 1915 bis 1928 Parteisekretärin der Zentrumspartei in Dortmund. Anschließend war sie bis 1933 Mitglied des Preußischen Landtags. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete sie als leitende Fürsorgerin beim Katholischen Fürsorgeverein für Mädchen, Frauen und Kinder in Dortmund. Nach dem Krieg und der Herrschaft der Nationalsozialisten setzte sie ihre politische Karriere fort und wurde 1946 Mitglied des Landtags Nordrhein-Westfalen, ab 1948 Mitglied des Parlamentarischen Rats und ab 1949 Mitglied des Deutschen Bundestags.

Besonders wichtig war ihr der Schutz der Ehe und Familie im Grundgesetz. Gemeinsam mit Helene Weber kämpfte sie erfolgreich für den besonderen Schutz von Müttern. Während 53 von 65 Abgeordneten schlussendlich für das Grundgesetz abstimmten, stimmte Helene Wessel dagegen. Obwohl sie es unterzeichnete und die Errungenschaften lobte, fehlte ihrer Meinung nach umfassende Berücksichtigung christlicher Werte sowie wichtige soziale Rechte.

Bis 1953 war Wessel Abgeordnete. Nach heftigen Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung Deutschlands legte sie 1951 den Parteivorsitz der Zentrumspartei nieder und trat im Folgejahr aus der Partei aus. Als überzeugte Katholikin und Pazifistin lehnte sie die Wiederbewaffnung Deutschlands ab. Von 1957 bis 1969 war Helene Wessel Mitglied des Bundestags für die SPD.

Fazit

Der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ ist eine wichtige Säule unseres Grundgesetzes. Das entschiedene Engagement der „Mütter des Grundgesetzes“ hat sie erbaut. Trotzdem haben wir bis heute keine vollkommene Gleichstellung erreicht. Der Artikel 3 Absatz 2 des Grundgesetzes bleibt somit, damals wie heute, ein Ideal- und kein Ist-Zustand.

Redaktionsempfehlung:

Auch in der Politik fordert der Gender Gap noch ordentlich Raum – nur 35,8 % der Abgeordneten im Bundestag sind weiblich. Mit den Fragen, woran das liegt und ob Frauen in der Politik andere Erwartungen entgegengebracht werden als Männern, beschäftigt sich die Folge „Die männliche Demokratie?“ des Podcasts Terra X History. Hören Sie doch mal rein (MP3-Download)!

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Bild: Steven Su (Unsplash, Unsplash Lizenz)

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