21.01.2020 — Udo Cremer. Quelle: Verlag Dashöfer GmbH.
Die Klägerin betreibt seit Beginn des Jahres 2003 in der Rechtsform einer OHG in A-Stadt eine Versicherungsagentur der V-AG. Gesellschafter zu je 50 % sind B und C. Die Gewinnermittlung erfolgt durch Bestandsvergleich (§ 4 Abs. 1, § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG). Als Versicherungsvertreter nach §§ 84 ff. HGB in der in den Streitjahren gültigen Fassung vermittelt die Klägerin Versicherungsprodukte und sonstige Finanzdienstleistungen der V-AG und ihrer Kooperationspartner. Nach Maßgabe der Provisionsvereinbarungen hat die Klägerin im Falle des Abschlusses von Versicherungsverträgen u.Ä. Anspruch auf Abschlussprovisionen. In den mit beiden Gesellschaftern der Klägerin abgeschlossenen Vertretungsverträgen vom 12.12.2002 heißt es unter Tz. 2.1.1 ("Aufgaben") wie folgt:
"Der Vertreter ist ständig damit betraut, der vertragschließenden Gesellschaft und den mit dieser im Rahmen der … Gruppe in Deutschland verbundenen Gesellschaften sowie deren Kooperationspartnern (alle nachfolgend Gesellschaften genannt) Versicherungsgeschäft sowie sonstiges Finanzdienstleistungsgeschäft nach Maßgabe der vertraglichen Vereinbarungen bzw. der dem Vertreter ausgehändigten Richtlinien und Produktbeschreibungen der Gesellschaften zu vermitteln. Der Vertreter ist dabei verpflichtet, sich mit ganzer Kraft um den regelmäßigen Zugang neuer und die Erhaltung bestehender Verträge zu bemühen (Bemühungspflicht). Um die bestehenden Verträge zu erhalten, pflegt der Vertreter im Rahmen seiner Möglichkeiten laufend Kontakt mit den Kunden, berät sie aus eigener Initiative oder auf deren Wunsch. Ziel ist es dabei immer, dass der Kunde umfassend versichert ist und bleibt, sowie sonstige Finanzdienstleistungen der Gesellschaft umfassend nutzt. Der Vertreter nimmt stets die Interessen der Gesellschaften mit der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns wahr und weist die Gesellschaften auf drohende Gefahren hin (Interessenwahrnehmungspflicht)."
Unter Bezugnahme auf das Urteil des BFH vom 28.07.2004 - XI R 63/03 (BFHE 207, 205, BStBl II 2006, 866) passivierte die Klägerin zum 31.12.2006 eine Rückstellung wegen Erfüllungsrückstands aus einer Nachbetreuungsverpflichtung von Lebensversicherungsverträgen in Höhe von 16.540 EUR. Bei der Rückstellungshöhe ging sie davon aus, dass die Nachbetreuung für 827 im Bestand befindliche Lebensversicherungsverträge durch eine Mitarbeiterin (Stundenlohn 10 EUR) zwei Stunden je Vertrag und je Jahr erfordere.
Das Finanzamt (FA) erkannte in seinem Bescheid über die gesonderte und einheitliche Feststellung von Einkünften für das Jahr 2006 vom 16.04.2008 die Rückstellung im Hinblick auf den seinerzeit insoweit geltenden Nichtanwendungserlass des Bundesministeriums der Finanzen vom 28.11.2006 (BStBl I 2006, 765) nicht an. Zum 31.12.2007 bilanzierte die Klägerin die Rückstellung in unveränderter Höhe, so dass weder bilanzieller Aufwand noch Ertrag entstand. In ihrem Jahresabschluss auf den 31.12.2008 erhöhte die Klägerin die streitige Rückstellung auf 24.860 EUR (Betreuungsaufwand für jetzt 1 243 Lebensversicherungsverträge x 2 Stunden x 10 EUR Stundenlohn). Die hiermit einhergehende Gewinnminderung von 8.320 EUR erkannte das FA in seinem Gewinnfeststellungsbescheid 2008 vom 17.05.2010 ebenfalls nicht an. Entsprechend wich das FA auch in seinem Gewerbesteuermessbescheid 2008 vom 25.05.2010 von der Erklärung ab.
Die Einsprüche wies das FA mit Einspruchsentscheidungen vom 27.05.2013 (Gewinnfeststellung 2006) bzw. vom 28.05.2013 (Gewinnfeststellung 2008 sowie Gewerbesteuermessbetrag 2008) zurück. Im nachfolgenden Klageverfahren legte die Klägerin ein Schreiben der B-AG vom 14.01.2014 vor, wonach die sich aus Tz. 2.1 des Vertretungsvertrags ergebende sog. Bemühungspflicht einer Betreuungspflicht gleichzusetzen sei. Nachdem der Berichterstatter des Finanzgerichts (FG) mit Schreiben vom 02.06.2016 unter Bezug auf das BFH-Urteil vom 09.06.2015 - X R 27/13 darauf hingewiesen hatte, dass konkrete Verpflichtungen für bestimmte Nachbetreuungsleistungen erforderlich seien, legte die Klägerin außerdem einen mit der B-AG am 23./29.06.2016 vereinbarten "Nachtrag zur Betreuungsverpflichtung" vor, mit dem die in den Vertretungsverträgen vom 12.12.2002 niedergelegten Pflichten der Klägerin wie folgt "klargestellt" werden sollen:
Ferner übersandte die Klägerin die E-Mail eines (leitenden) Angestellten der Rechtsabteilung der V-AG vom 17.06.2016, in der es heißt, dass "vertragsrechtliche Konsequenzen im Falle von Pflichtverletzungen ... z.B. die Kündigung des Vertretungsvertrags" seien.
Das FG Münster wies die Klage mit Urteil vom 09.09.2016 - 4 K 2068/13 G,F als unbegründet ab. Die Klägerin sei in den Streitjahren gegenüber der V-AG weder gesetzlich noch vertraglich (d.h. rechtlich) verpflichtet gewesen, die im Bestand befindlichen Lebens- und Rentenversicherungsverträge nachzubetreuen.
Die Revision ist unbegründet und daher nach § 126 Abs. 2 FGO zurückzuweisen (BFH Urteil vom 25.7.2019, IV R 49/16), da das FG unter einer Gesamtwürdigung der Umstände des Streitfalls zu Recht entschieden hat, dass in den Streitjahren schon dem Grunde nach keine Rückstellungen für ungewisse Verbindlichkeiten zu bilden sind.
Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 EStG i.V.m. § 249 Abs. 1 Satz 1 HGB sind für ungewisse Verbindlichkeiten Rückstellungen zu bilden. Zwar dürfen Ansprüche und Verbindlichkeiten aus einem schwebenden Geschäft in der Bilanz grundsätzlich nicht ausgewiesen werden. Ein Bilanzausweis ist u.a. aber dann geboten, wenn das Gleichgewicht der Vertragsbeziehungen durch Vorleistungen oder Erfüllungsrückstände eines Vertragspartners gestört ist. Es entspricht gefestigter BFH-Rechtsprechung, dass eine Rückstellung wegen Erfüllungsrückstands zu bilden ist, wenn ein Versicherungsvertreter die Abschlussprovision nicht nur für die Vermittlung der Versicherung, sondern auch für die weitere Betreuung des Versicherungsvertrags erhält. Ein Erfüllungsrückstand setzt jedoch nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung voraus, dass der Steuerpflichtige zur Betreuung der Versicherungen rechtlich (vertraglich oder gesetzlich) verpflichtet ist. Leistungen, die ohne Rechtspflicht erbracht werden, sind für die Bemessung der Rückstellung irrelevant.
Nach diesen Maßstäben ist die Gesamtwürdigung des FG, dass die Klägerin in den Streitjahren zur Nachbetreuung von Versicherungsverträgen rechtlich nicht verpflichtet gewesen sei, revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Zutreffend hat das FG eine gesetzliche Verpflichtung der Klägerin zur nachlaufenden Betreuung verneint. Eine Nachbetreuungspflicht ergibt sich weder aus § 34d der Gewerbeordnung noch aus Vorschriften des HGB oder des Gesetzes über den Versicherungsvertrag.
Das FG ist in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise auch zu dem Schluss gelangt, dass in den Streitjahren keine vertragliche Verpflichtung der Klägerin zur Nachbetreuung bestanden habe. Die Würdigung des FG beruht im Wesentlichen auf seiner Auslegung der Tz. 2.1.1 der gleich lautenden Vertretungsverträge vom 12.12.2002 und der von der Klägerin im Laufe des Klageverfahrens vorgelegten Unterlagen. Die Vertragsauslegung obliegt dem FG als Tatsacheninstanz. Vorliegend entspricht sie den Grundsätzen der §§ 133, 157 BGB und verstößt nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze. Sie ist jedenfalls möglich und damit für den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindend, zumal das FG bei seiner Vertragsauslegung auch die außerhalb der Verträge liegenden Umstände berücksichtigt hat.
Nicht gegen Auslegungsregeln, Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt die Würdigung des FG, dass die Vertreterverträge vom 12.12.2002 keine eindeutige Vereinbarung zur Nachbetreuung von Bestandsverträgen enthalten.