04.07.2022 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans Böckler Stiftung.
Dieser Druck führt zu einer tiefen Verunsicherung der Gesellschaft, die durch die Corona-Pandemie bereits erschöpft ist. Vermieden werden sollten aber teure Entlastungen mit verteilungspolitisch fragwürdigen Folgen wie etwa eine allgemeine Absenkung der Einkommensteuer. Zu diesen Ergebnissen kommen Prof. Dr. Bettina Kohlrausch und Prof. Dr. Sebastian Dullien in einer neuen Kurzstudie. Darin skizzieren die wissenschaftliche Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) und der wissenschaftliche Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung auf Basis repräsentativer Befragungsdaten die aktuelle wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation. Und sie beleuchten verschiedene Entlastungsvorschläge, die in letzter Zeit gemacht wurden.
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Die Belastung durch die starke Teuerung ist für Haushalte bis in die breite Mitte der Gesellschaft hoch. Das zeigt unter anderem die aktuelle Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung. Rund ein Viertel der befragten gut 6200 Erwerbstätigen und Arbeitsuchenden gab dabei Ende April an, die eigene finanzielle Situation „äußerst stark“ oder „stark“ belastend zu finden und sich „große Sorgen“ um die eigene wirtschaftliche Situation zu machen. Damit sind die Sorgen und Belastungen in Folge von Ukraine-Krieg und Inflation verbreiteter als auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie, macht der Vergleich mit vorhergegangenen Befragungswellen deutlich. „Die aktuelle Krise ist somit unmittelbar in den Haushalten spürbar“, betonen die Soziologin und der Ökonom.
Die Belastungen sind ungleich verteilt, wobei sich stark verteuerte Lebensmittel und gestiegene Energiepreise unterschiedlich auswirken: Während die Energiepreise Haushalte mit niedrigen bis mittleren Einkommen beinahe gleich stark treffen, belasten die teureren Lebensmittel die unteren Einkommen deutlich stärker als die mittleren und oberen Einkommen. So berichteten von den Befragten mit niedrigeren Haushaltseinkommen bis maximal 2000 Euro netto monatlich 65 bis 75 Prozent von „äußersten“ oder „starken“ Belastungen durch die gestiegenen Lebensmittelpreise. „Besonders problematisch ist, dass dieser finanzielle Stress vor allem jene Haushalte mit oft ohnehin niedrigen Einkommen trifft, die bereits während der Corona-Pandemie überdurchschnittlich häufig Einkommenseinbußen hinnehmen mussten“, sagt WSI-Direktorin Kohlrausch.
Die großen finanziellen Belastungen der unteren Einkommensgruppen „schlagen als gesamtgesellschaftliche Vertrauenskrise auf“, warnen die Forschenden. Das Vertrauen in die Fähigkeit von Staat und Gesellschaft, die dargestellten finanziellen Belastungen aufzufangen und gerecht zu kompensieren, sei gering. So stehen Sorgen um eine Zunahme der sozialen Ungleichheit und um den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft nach Ängsten vor einer Eskalation des Ukraine-Krieges und Sorgen um die Inflation recht weit vorne im Ranking der Befragten. Knapp ein Drittel stimmte der Aussage zu, dass „sie sich vom Staat nicht ausreichend unterstützt fühlen“ und ein ebenso großer Anteil ist überzeugt, dass die Einkommensverteilung in Deutschland durch den Ukraine-Krieg noch ungleicher wird. Ein Viertel der Befragten teilte die Befürchtung, „dass die Gesellschaft so weit auseinanderdriftet, dass sie Gefahr läuft daran zu zerbrechen“.
Nur ein knappes Viertel der befragten Erwerbspersonen äußerte sich im April „zufrieden” oder „sehr zufrieden” mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung seit Beginn des Ukraine-Kriegs, wobei deutlich wird, dass vor allem soziale und finanzielle Aspekte mit der Unzufriedenheit korrelieren. „Die aktuell weit verbreitete Unzufriedenheit mit dem Management der Kriegsfolgen ist somit offenbar vor allem von Sorgen um soziale und finanzielle Fragen getrieben“, konstatieren Kohlrausch und Dullien. „Es geht bei der Umsetzung zielgenauer Entlastung somit nicht nur um schnelle und dringend notwendige Hilfen für untere und mittlere Einkommen, sondern auch um den Beweis der Handlungsfähigkeit des Staates beziehungsweise der Bundesregierung sowie den Nachweis, dass es gelingt diese Krise gerecht und mit Respekt vor den Schwächsten der Gesellschaft zu bewältigen“, lautet ihr Fazit zum aktuellen gesellschaftlichen Klima.
Damit müssten sich auch potenzielle Maßnahmen zur weiteren Entlastung der Privathaushalte daran messen lassen, ob sie geeignet sind, die besonders belasteten unteren und mittleren Einkommen zu unterstützen, und gleichzeitig als „sozial gerecht” wahrgenommen werden, schreiben Kohlrausch und Dullien. Exemplarisch beleuchten sie sechs aktuelle Vorschläge.
Dieser Ansatz wurde bereits mit dem Corona-Bonus in der Pandemie praktiziert. Durch eine solche Maßnahme würde der Staat bei solchen Einmalzahlungen netto quasi „etwas drauflegen“. Dies dürfte für die Tarifparteien solche Zahlungen relativ zu Tabellensteigerungen attraktiver machen.
Wenn dadurch pauschale Einmalzahlungen gewährt werden, profitierten prozentual Geringverdiener von den Zahlungen der Arbeitgeber stärker als jene mit hohen Einkommen. Fiskalpolitisch, also aus Sicht des Staates, ist allerdings die Entlastung bei Bezieherinnen und Bezieher höherer Einkommen tendenziell größer, weil diese einen höheren Grenzsteuersatz zahlen und deshalb die Mindereinnahmen durch die Steuerbefreiung bei Ihnen entsprechend höher sind, analysiert Ökonom Dullien. „Ein Problem ist auch, dass den Sozialversicherungen Einnahmen entgehen und deshalb – etwa bei der gesetzlichen Krankenversicherung – höhere Beitragssteigerungen notwendig werden könnten.“ Zuletzt bestehe das Risiko, dass durch den Anreiz zu Einmalzahlungen statt dauerhafter, tabellenwirksamer Lohnerhöhungen die Tabellenanstiege zu gering ausfallen und so deutlich hinter den Preissteigerungen zurückbleiben. „Dies könnte eine Bugwelle an Nachholbedarf erzeugen, der sich in der Notwendigkeit sehr hoher Lohnsteigerungen in künftigen Jahren entlädt“, schreiben Kohlrausch und Dullien.
Schon in den ersten beiden Entlastungspaketen hat die Regierung solche Zahlungen in Form der Energiepauschale (eine steuerpflichtige Zahlung an alle Erwerbstätigen) und des Kinderbonus´ (eine Zahlung an Empfängerinnen und Empfänger von Kindergeld, die mit dem Kinderfreibetrag verrechnet wird) eingesetzt. „Ein Vorteil dieser Zahlungen ist, dass Erwerbstätige mit geringem Verdienst sowohl relativ als auch in Euro gerechnet stärker profitieren als Besserverdienende“, heben die Forschenden hervor. Zudem würden diese Zahlungen nicht nur jene Beschäftigten erreichen, bei denen der Arbeitgeber eine Einmalzahlung gewährt beziehungsweise diese tariflich vereinbart wird. Auch Kleinselbständige würden profitieren. Auf jeden Fall sollten solche Einmalzahlungen noch einmal für jene Haushalte auf den Weg gebracht werden, die entweder bisher noch gar nicht von diesen Zahlungen profitiert haben (Rentnerinnen und Rentner, Studierende) oder rein auf Transfers angewiesen sind, empfehlen Kohlrausch und Dullien.
Auch die Preise der Waren im Warenkorb von Menschen in der Grundsicherung haben deutlich angezogen und sind stärker gestiegen als der Regelsatz. Dessen turnusgemäße Anpassung findet erst wieder im Januar 2023 statt. „Da ohnehin die Regelsätze schon heute nicht armutsfest sind, bedeutet dies, dass viele Menschen de facto durch die hohe Inflation in die Armut gedrückt werden“, warnen die Forschenden. Ein Vorziehen der Anpassung würde diese Menschen im zweiten Halbjahr 2022 kurzfristig entlasten.
Diskutiert wird auch, den Einkommensteuertarif im Umfang der Inflation zu verschieben. Während der Grundfreibetrag seit 2010 deutlich stärker angehoben wurde, als die Preise gestiegen sind, gilt dies nicht für die übrigen Eckpunkte des Steuertarifs. Allerdings sei es eine politische Entscheidung, wer wie stark besteuert werden soll. „Die Verschiebung aller Tarifeckpunkte im Umfang der Inflation würde primär Besserverdienenden zugutekommen Diese würden sowohl in absoluten Euro-Beträgen wie auch relativ zu ihren Einkommen stärker entlastet als Geringverdienerinnen und -verdiener“, so Kohlrausch und Dullien. Außerdem würden all jene Haushalte leer ausgehen, die keine Einkommensteuer bezahlen. Schließlich wären die fiskalischen Kosten einer solchen Maßnahme sehr hoch, und sie wären nicht nur auf das Jahr 2022/2023 beschränkt, sondern würden auch in künftigen Jahren anfallen.
Denkbar wäre auch, die Mehrwertsteuer entweder für alle Umsätze oder speziell für Lebensmittel dauerhaft oder vorübergehend zu senken. Ein Vorteil wäre, dass prinzipiell eine niedrigere Mehrwertsteuer den Inflationsdruck dämpfen würde und so die Privathaushalte entlastet würden. Ein Problem an dem Vorschlag sei allerdings, dass nicht klar ist, in welchem Umfang tatsächlich der Handel die Mehrwertsteuersenkung auch an die Verbraucherinnen und Verbraucher weitergeben würde, analysieren Kohlrausch und Dullien. „Auch wäre die Entlastung nicht sehr zielgenau: In Euro gerechnet würden Hocheinkommenshaushalte stärker profitieren, da diese üblicherweise teurere Produkte kaufen und mehr konsumieren“, schreiben sie. Eine dauerhafte Mehrwertsteuersenkung wäre für die öffentlichen Haushalte zudem sehr teuer, bei einer vorübergehenden Senkung käme es bei Auslaufen der Steuersenkung zu einem Preissprung und damit wieder höheren Inflationsraten.
Wie von Sebastian Dullien und Prof. Dr. Isabella Weber von der University of Massachusetts vorgeschlagen, könnte ein Grundverbrauch von Gas im Preis gedeckelt und entsprechend staatlich subventioniert werden. Ein solcher Schritt würde die Haushalte mit Gasheizung entlasten, die gemessene Inflationsrate senken, aber gleichzeitig den Anreiz zum Energiesparen intakt lassen, weil der Verbrauch über dem Grundsockel weiter zum vollen Preis abgerechnet würde. Ein solcher Gaspreisdeckel könnte insbesondere bei einer Lieferunterbrechung russischen Gases und der daran anknüpfenden Weiterreichung gestiegener Gaspreise an die Privathaushalte ein wichtiges Element sein, Privatinsolvenzen und soziale Verwerfungen zu vermeiden, so Kohlrausch und Dullien.
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